Theater

Ein Stück nur für dich

Regisseur Bernhard Mikeska steht am 28.07.2014 in Spangenberg (Hessen) auf dem Speicher eines Fachwerkhauses, in dem ein ungewöhnliches Theaterstück aufgeführt werden soll. In dem Werk geht ein Zuschauer einzeln von Raum zu Raum und trifft dort auf je einen Schauspieler.
Regisseur Bernhard Mikeska steht im hessischen Spangenberg auf dem Speicher des Fachwerkhauses, in dem seine ungewöhnliche Theaterproduktion aufgeführt wird. © picture alliance / dpa / Uwe Zucchi
Von Michael Przibilla · 02.08.2014
Jeweils allein betreten die Zuschauer in der ungewöhnlichen Theaterproduktion des Berliner Regisseurs Bernhard Mikeska die Räume eines alten Fachwerkhauses. Dabei treffen sie auf Menschen aus verschiedenen Zeiten, ihre Geschichten - und sich selbst.
Das Haus, das ich betrete, ist ein uraltes Haus. Gebaut vor 300 Jahren, aus Fachwerk. Die Balken sind schief. Die Böden knarzen. Lehm bröckelt aus den Gefachen. In allen Ritzen stecken Erinnerungen. Und in den Räumen unerlöste Gestalten, die nicht frei gelassen wurden von diesem Haus und den Zeiten.

Die Luftschnapperin: "Ich spürte heute auf der Zunge einen starken Blutgeschmack. Offensichtlich hatte ich mich, ohne es zu merken, auf die Zunge gebissen.“

Ich bin etwas irritiert von dieser depressiven Gestalt. Von dieser Schauspielerin im Nobelschick der 50er-Jahre. Einer Frau aus dem Ruhrgebiet offenbar, die damals wie so viele andere nach Spangenberg gekommen ist, ins nordhessische Bergland, wegen der guten Luft hier. Sie will das Zimmer nie wieder verlassen, erzählt sie mir. Mir allein. Denn außer ihr und mir ist niemand in diesem Raum, mit dem Gästewaschbecken und den Original-Blümchentapeten von damals. Und der Sichel, die im Vorhang steckt. Mir schießt durch den Kopf: Welcher Teil von "Psycho" ist das hier eigentlich.

Die Luftschnapperin: "Ich muss eben, ohne es zu merken, einen furchtbaren Schrei ausgestoßen haben. Keine Angst…“

Es gehört zum Konzept dieser 1:1-Inszenierung, dass immer nur ein Besucher auf einen Schauspieler trifft. Nach einigen Minuten holt mich eine schweigende Frau ab, in einem strengen Hauskleid des 19. Jahrhunderts. Sie geleitet mich durch einen Flur, schweigend, vorbei an einer alten Zinkwanne und leeren Marmeladengläsern. Bleiche Kinder huschen an mir vorüber wie kleine Hausgeister. Noch bevor sie richtig erfasst werden können, sind sie schon wieder in der nächsten Besenkammer verschwunden. Dann öffnet sich die nächste Tür. Der Raum erinnert an eine Eisdiele. Ein unsympathischer Mann löffelt genüsslich ein Erdbeereis.
Der Zuschauer als Komplize
In der Eisdiele: "So etwas isst man in Italien. Das ist ein Land mit einer ganz anderen Lebensart. Verstehen Sie? Weit im Süden, wo es warm ist. Und wo die Frauen jederzeit in kurzen Kleidern gehen. Und in Italien, da küsst man sich, wenn man sich trifft. La dolce vita – das süße Leben, so nennt man es. Wären wir jetzt in Italien, ich neigte mich elegant nach vorne und gäbe Ihnen einfach einen Kuss.“

Dieser Typ entpuppt sich als Mann mit ziemlich schrägem Frauenbild. Ein Geistesverwandter von Josef F. und Wolfgang Priklopil, der auch gerne eine Natascha in seinem Keller hätte - und vielleicht sogar schon hat. Das ist Gänsehaut-Theater. In dieser 1:1-Begegnung habe ich keine Chance, distanziert zu bleiben, im Theatersessel zu verschwinden. Dieser Mann macht mich zum Komplizen – oder zum Opfer. Ich bin nicht nur Zuschauer. Ich spiele selbst eine Rolle. Egal, ob ich etwas sage oder nicht. Genau das ist beabsichtigt, erklärt mir später Bernhard Mikeska, der künstlerische Leiter dieses Projekts:

"Das ist sicher eine Herausforderung. Aber man muss nicht mitspielen. Man kann was sagen, man muss aber nichts sagen. Es gibt Szenen, in denen man eher stiller Beobachter ist, und in anderen Szenen wird man direkt angesprochen, bekommt Fragen gestellt, muss aber wie gesagt nicht antworten, kann aber antworten. Und für die Schauspieler ist es natürlich auch eine Herausforderung. Es ist ganz anders als das, was sie sonst machen.“
Mikeska hat sich mit seinem Team wochenlang in diesem Haus und in der Umgebung aufgehalten. Er hat dort nach Stimmungen gesucht und nach Spangenberger Geschichten, die zu diesem Haus passen, in dem früher eine Kohlenhandlung untergebracht war. Ein Experiment, auch für den an Experimente gewöhnten Theatermann Mikeska:

"Das Haus ist ungefähr 300 Jahre alt. Und es hat teils noch in einem ursprünglichen Zustand belassene Räume. Das wirkt ein bisschen wie, es ist jemand ausgezogen oder gestorben und man hat die Tür zugemacht und der Raum ist dann so geblieben wie zu diesem Zeitpunkt. Also in vielen Räumen ist die Zeit stehen geblieben und das ist sehr interessant. Man macht 'ne Zeitreise, wenn man da durchgeht.“
"Die machen das nur für dich"
Pro Abend, erklärt Mikeska, können nur 32 Besucher das Haus und seine Räume im Einzeldurchgang erkunden. Das sind nicht viele. Aber diese wenigen haben die Chance auf ein besonders intensives Theatererlebnis:

Zuschauer: "Mir hat es sehr gut gefallen. Es ist mal was ganz anderes als das, was man so von Theater oder Schauspiel so kennt. Aber da muss man sich erst mal drauf einlassen. Es ist wirklich sehr nah. Vor allen Dingen man denkt: Die machen das nur für dich, nur für dich.“

Im Hinterhof des Hauses kann ich beobachten, wie die Besucher zu fest vereinbarten Zeiten eintrudeln, von außen ersten Kontakt aufnehmen mit den alten Balken und Gefachen und dann nach und nach alleine auf die Reise geschickt werden durch Räume und Zeiten, so wie ich kurz zuvor. Ich weiß dann schon wie sie sich fühlen. Zum Beispiel unten im feuchten Kriechkeller, wo man sich leicht den Kopf anstößt, und wo auf gestampftem Lehmboden ein Bett steht, in dem eine junge Frau liegt, fröstelnd in ihrem Hochzeitskleid:

Im Kriechkeller: "Komm näher, keine Angst. Hab keine Angst, ich liebe Dich! Du liebe Zeit. Sagt man das so. Ich glaube nicht, oder? Das wird in Filmen doch gesagt. (flüsternd) Leg Dich ins Bett. Und zieh Dein wunderschönes Kleid aus…"
Mehr zum Thema