"Testeritis"

Die nervigste Krankheit im Netz

Kundenrezensionen sind auf einem Smartphone zu sehen.
So viele Sterne - Kundenrezensionen im Netz © picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt
Von Panajotis Gavrilis  · 16.12.2014
Dank Internet lässt sich mit ein paar Klicks der neueste Laptop oder die Kamera mit größerer Pixelanzahl bestellen. Aber wie finde ich das richtige Produkt? Im Netz gibt es seitenweise Testberichte - doch die können schnell zur Qual werden.
Meine Spiegelreflexkamera mit den unhandlichen Objektiven ist mittlerweile einfach zu sperrig und schwer geworden – und die Fotoqualität meines Smartphones ist auch eher mäßig. Ich entscheide mich: Eine spiegellose Kompakt-Systemkamera muss her:
Ich gebe in der Suchmaschine meines Vertrauens "Systemkamera" ein und kriege über 800.000 Ergebnisse auf 27 Seiten in 0,42 Sekunden.
Nett – denke ich mir. Da treffen Algorithmen eine Vorauswahl für mich.
Ich tippe und wische mich durch die ersten Suchtreffer.
Ich werde bombardiert mit direkten Angeboten von Testsiegern, mit Vergleichen und sich unterbietenden Preisen.
Aber ich lasse mich davon nicht beirren. Denn ich bin ein kritischer Verbraucher, der erst überlegt und vergleicht, bevor er Geld ausgibt.
Auf meinem Bildschirm leuchten fünf von fünf gelben Sternen.
Sven B. bewertet für mich:
"Trotz anfänglicher Bauchschmerzen bezüglich der Sensorgröße erlebe ich nun eine Renaissance meines Hobbys. Die Qualität, die ich mit den Festbrennweiten erziele, ist schlichtweg fantastisch!"
Ich klicke weiter auf "Alle 59 Kundenrezensionen anzeigen" und suche – ich will ja objektiv sein – nach einer niederschmetternden Kritik als Ausgleich. Immerhin: es gibt eine mit nur 3 Sternen von der Userin Seni:
"Mir war für den Preis die Haptik einfach zu filigran, daher habe ich sie noch am selben Tag retourgeschickt und eine andere Systemkamera gekauft, die zwar größer ist, aber dafür sind die Tasten gut bedienbar."
Ich halte fest: Gute Bildqualität, schlechte Haptik. Na toll. Und nun?
Mangelndes Vertrauen in die Käufer-Rezensionen
Ich versuche es mit einer…
"Ach, wie vermisste ich sofort die guten Drehräder an meiner DSLR zum Einstellen von Verschlusszeit und Blende über Mittelfinger und Daumen."
… sehr ausführlichen Rezension …
"Alle diese Einstellungen müssen bei der hier über das Bildschirmmenü bzw. die +/- Taste und dann die Positionsauswahl getätigt werden."
Verstehe. Kamera-Einstellungen also auch nicht so einfach. Immerhin: Die Bildqualität soll stimmen.
Aber so kritisch wie ich bin, traue ich keiner dieser Käuferinnen-Rezensionen, die ich nicht selbst gefälscht habe.
Ich schaue also nach den Online-Testberichten von den vermeintlich "richtigen" Profis, um mir ein vernünftiges Bild zu machen.
"Schneller Autofokus, scharfes Klapp-Display, Altbackenes Menü, kein interner Blitz."
Aha. Naja, wirklich weiter hilft mir dieses Urteil auch nicht.
Auf den anderen rund ein Dutzend Testbericht-Seiten, überall das gleiche Spiel. Grün markierte Plus-Zeichen und rote Minuszeichen als Symbole der Vor- und Nachteile, "Platz 1-3" – Links und irgendwelche "sehr gut" Siegel mit Schulnoten drauf.
"Diese kleine Kamera produziert Bilder von riesiger Qualität!"
Ich muss noch einmal in die Details einsteigen. Was ist mit dem ISO-Wert, also der Lichtempfindlichkeit des Sensors?
"Der DSLM-Geheimtipp!"
Stundenlange Recherchen im Netz
Die fällt laut Bericht "leicht" besser aus, als bei der Vorgängerin und liegt auf vergleichbarem Niveau mit anderen Modellen einer Konkurrenzmarke, die ebenfalls einen Sensor im "Micro-FourThirds"-Format einsetzt. Aha.
"Auflösung und Ausgangsdynamik waren allerdings zu niedrig."
Bleibe ich beim Standard-Objektiv 14-42mm? Welche SD-Karte soll ich nehmen, 32 GB oder doch nur 16? Während ich suche, merke ich, dass es bereits ein Nachfolgemodell gibt. Na super.
Genauso viele Megapixel, ein anderer Bildprozessor und gerade einmal ein paar Effekte nur dazu. Lohnt sich das für 100 Euro mehr?
Mittlerweile bin ich schon seit über einer Stunde im Netz und habe eine Rezension nach der anderen durchforstet, den True Pic 6-Bildsensor mit dem "Siebener" verglichen, die Eigenschaften des integrierten 2-Achsen-Bildstabilisators angeschaut und mir vorgestellt, wie die Kamera denn so in der Hand liegen könnte. Und das waren erst zwei Kameras von einer Marke. Was ist mit den 20 anderen?
Und da gibt es ja noch die Video-Portale, auf denen in Sieben-Minuten-Clips mir alles erklärt wird, was ich wissen müsste.
Von Amateuren bis hin zu den Voll-Profis. Ein bequemer "Allround-Test-TV On-Demand”. Da darf ich sogar beim Auspacken der Kamera zuschauen.
Dieser Testwahn treibt mich selbst eigentlich nur in den Wahnsinn.
Oder bin ich vielleicht zu kritisch mit den Rezensionen selbst?
Bin ich plötzlich der Tester der Tests? Leide ich als überforderter "Digital Native" sogar an der höchstansteckenden Testeritis – also dem Beurteilungschaos im Netz?
Selbstdiagnose: Ja. Gegenmaßnahme: Selbstheilung.
Ich spare mir die schlappen 500 Euro für die neue Kamera und genieße die wiedergewonnene Zeit - ganz ohne Tests.
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