Tenorth: Sozialer Aufstieg durch Bildung ist eine Illusion

Heinz-Elmar Tenorth im Gespräch mit Joachim Scholl · 22.10.2008
Der Berliner Erziehungswissenschaftler und Bildungsexperte Heinz-Elmar Tenorth betrachtet die Idee von Chancengleichheit allein durch Bildung in Deutschland derzeit als Illusion. Immer noch sei die Benachteiligung nach der sozialen Herkunft ein Problem. Diese Ungleichheit sei durch die Bildungsexpansion der vergangenen Jahrzehnte nicht aufgehoben worden. Deshalb seien alle Modelle, die die strikte Abkapselung von Bildungsgängen aufheben, wichtig und elementar.
Joachim Scholl: 1963 veranstaltete die SPD ihren bildungspolitischen Kongress "Aufstieg durch Bildung". Das war der Auftakt zu einer Bildungsoffensive, die in den 60er- und 70er-Jahren verstärkt Kinder aus kleinen, nicht-akademischen Verhältnissen an die Universitäten brachte. Heute, 45 Jahre nach jenem Kongress, tagt in Dresden ein Bildungsgipfel unter nämlichem ur-sozialdemokratischen Motto "Aufstieg durch Bildung". Angeregt diesmal von der Kanzlerin Angela Merkel, CDU. Im Studio begrüße ich nun den Erziehungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth. Er lehrt an der Humboldt-Universität in Berlin. Willkommen im "Radiofeuilleton"! Guten Tag!

Heinz-Elmar Tenorth: Guten Tag!

Scholl: Was in der Vergangenheit einmal gelang, Herr Tenorth, dass Kinder aus nicht-akademischem Milieu, Arbeiterkinder, verstärkt höhere Schulen besuchen, eventuell gar die Universität, was in den 70er-Jahren ja doch durchaus geklappt hat, wie könnte ein solcher Aufstieg durch Bildung heute wieder gelingen?

Tenorth: Er kann natürlich nur dadurch gelingen, dass man Bildungsbeteiligung erhöht, Bildungsbeteiligung in höherwertigen Bildungsgängen erhöht und dabei einen Bildungsprozess so organisiert, dass er imstande ist, Nachteile der Herkunft im Bildungssystem auszugleichen. Das ist das systematische Problem. Ob er dann gelingen kann, ist eine zweite Frage. Und ob er auch zu Aufstieg führt, ist eine dritte Frage.

Denn wenn ich auf Ihre Ausgangsbemerkung zurückkomme, dann muss man ja festhalten: Ein Teil der Bildungsbenachteiligung, die man 1963 konstatierte, ist nicht aufgehoben. Denn von den vier großen Benachteiligungsgruppen, die so fast schon mythischen Gehalt in den 60er-Jahren hatten, ist eine geblieben. Und das ist die nach der sozialen Herkunft.

Aufgehoben ist die Benachteiligung von Mädchen. Die sind die Gewinner der Bildungsexpansion. Aufgehoben ist die Benachteiligung geringerer Bildungsbeteiligung nach der Konfession. Zwischen Katholiken und Protestanten gibt es die Differenz nicht mehr, die es traditionellerweise in Deutschland gab. Und aufgehoben ist auch die ungleiche Bildungsbeteiligung nach Region. Wir haben zwischen Stadt und Land nur noch mal marginale Differenzen.

Aber nach wie vor ist die Chance für jemand, der aus Unterschichten kommt, wirklich nur das Abitur zu bekommen, systematisch deutlich und kontinuierlich gering geblieben. Den Teil von Ungleichheit haben wir gerade durch die Bildungsexpansion nicht aufgehoben. Von daher ist das die zentrale Ungleichheitsproblematik, mit der wir heute noch zu tun haben.

Scholl: Ich erzähle Ihnen mal folgende Geschichte: Ein Junge, 1960 geboren, wächst auf dem Land auf, in kleinbürgerlichem Milieu, die Eltern haben beide Hauptschulabschluss. Das Kind ist aufgeweckt, schreibt gute Noten, die Lehrer sagen, oh, der muss aufs Gymnasium. Die Eltern zögern, das ist nicht ihre Welt, aber der Bub geht schon mal auf die Realschule und später dann doch noch aufs Gymnasium, macht ein passables Abitur, studiert und er ist gar nicht alleine, sondern ganz viele seiner Kameraden und Kameradinnen sind mit von der Partie, alles Kinder kleiner Leute. Und heute ist einer Spitzenmanager bei VW, einer Anwalt, der Dritte Psychotherapeut, mehrere Ärzte und einer Radiomoderator im Deutschlandradio Kultur. Der sitzt jetzt vor Ihnen. Das ist doch der klassische Fall von Aufstieg durch Bildung, ein Vivat auf die Bildungsreform der 70er-Jahre?

Tenorth: Ja natürlich, den will ich auch ja gar nicht bestreiten. Und für den gibt es ganz viele Geschichten. Ich könnte Ihnen auch eine erzählen von einem katholischen Proletarierkind aus dem nördlichen Ruhrgebiet, 1944 geboren. Und der sitzt jetzt Ihnen gegenüber und der ist auch aufgestiegen.

Trotzdem gibt es zwei Punkte, die man, bevor man in Begeisterung ausbricht, beachten muss. Das eine ist: Wie repräsentativ ist die Geschichte, die wir uns beide wechselseitig erzählen? Die Bildungssoziologen haben ein Maß dafür, das heißt "Rekrutierungsindex", nicht Beteiligungsindex sondern Rekrutierungsindex. Und da müssen wir fragen, wie viele aus der Schicht, aus der wir beide kommen, unterschiedlich, ländlich, städtisch, proletarisch usw., wie viele aus dieser Schicht sind tatsächlich, von ihrer Herkunftsschicht gerechnet, aufgestiegen? Wir werden auf ganz kleine Zahlen kommen, die nicht groß und die nicht repräsentativ sind. Und die zeigen das, was im Bildungssystem immer ging.

Ein Kollege von mir, Peter Lundgren hat Studien gemacht über Bildungsaufstiege im 19. Jahrhundert und kann für große Städte Minden, Duisburg zeigen, wie so was als individueller Aufstieg immer funktioniert hat über das Bildungssystem.

Das Zweite, was man betrachten muss, die 60er Jahre sind ein besonderer Fall, insofern als eine Expansion auf einen Level stattfindet, der den üblichen Industriestaaten entspricht und im Zuge der Expansion ist die Möglichkeit des Aufstiegs für viele dadurch größer geworden, weil die aufnehmenden Berufspositionen bereit standen in einer Weise, wie wir das heute gar nicht mehr so kennen. Offenheit und Nachwuchsbedarf existierte zentral.

Nehmen Sie nur die höheren Schulen: Wenn die Schülerzahl der höheren Schulen von fünf Prozent eines Altersjahrgangs auf 30 Prozent und mehr wächst, brauchen Sie entsprechenden Zuwachs an Lehrern. Sie brauchen entsprechenden Zuwachs an akademischen Absolventen. Das heißt, dieser Generations- und Expansionseffekt schafft Chancen, die so aussehen, als hätte sie das Bildungssystem erzeugt, die aber selber erst nur Expansion und Selbstausbau sind. Insofern muss man zustimmen, aber Sie sehen, solche Chancen sind nicht alltäglich.

Scholl: Das heißt, wenn man heute von Chancengleichheit spricht in der öffentlichen Bildungsrhetorik, sage ich es jetzt mal, dann ist das eigentlich eine Illusion?

Tenorth: Es ist eine Illusion, wenn man zwei Unterscheidungen ignoriert. Das eine ist, natürlich muss man sehen, dass höhere Beteiligung an höherwertigen Abschlüssen möglich ist. Wir können die Abiturientenzahlen über die knapp 50 Prozent, auf die wir zusteuern, wie in manchen anderen Ländern auf 70, 80 Prozent steigern. Dann haben wir Bildungsgleichheit, vielleicht.

Was wir damit nicht erreichen, ist das, was die meisten Leute mit der Aufstiegsmetapher zugleich versprechen, nämlich sozialen Aufstieg. Wenn sie allen ein Abitur geben, ist das Abitur als Aufstiegsinstrument nichts mehr wert, weil es niemanden mehr unterscheidbar macht. Und dann haben Sie mit gleichen Bildungsmöglichkeiten nicht soziale Aufstiege inszeniert. Und man muss gesellschaftliche Ungleichheit und Bildungsungleichheit unterscheiden.

Und die Illusion, die heute darin steckt, ist, glaube ich, die, dass man den Leuten verspricht, dass sie ihre prekäre soziale Lage durch Bildung und allein durch Bildung wesentlich verbessern würden. Was sie können, ist das Notwendige sichern. Aber es ist nie eine hinreichende Bedingung für Aufstieg.

Scholl: Der Bildungsgipfel heute in Dresden. Hier im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist der Erziehungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth. Wie sind denn jetzt nun aber die verschiedenen Bestrebungen zu bewerten? Zum Beispiel das dreigliedrige Schulsystem von Hauptschule, Realschule, Gymnasium steht momentan auf dem Prüfstand. Auch hier will man eine größere Durchlässigkeit erreichen durch Gesamtschulen. In Bayern wird es demnächst Regionalschulen geben, die Hauptschule wird mit der Realschule zusammengeführt. Wie bewerten Sie denn diese Ansätze im Hinblick auf eine größere Durchlässigkeit des Systems, dass doch Nichtakademikerkinder zumindest formal den Aufstieg schaffen, wenn er auch nicht sozial ist wie in Ihrem Sinne?

Tenorth: Das ist ungeheuer wichtig, weil man ja eine Dimension von Bildung gar nicht ignorieren darf, die mit der Aufstiegsmetapher häufig vergessen wird. Zunächst ist Bildung das zentrale Instrument, um unsere Teilhabefähigkeit an Gesellschaft überhaupt zu ermöglichen. Wir müssen kompetent werden, einen Beruf zu ergreifen. Wir müssen kompetent werden, uns politisch zu betätigen. Wir müssen kompetent werden, unseren Lebenslauf selbst aktiv zu gestalten. Das enthält man ja denen vor, die gegenwärtig Hauptschulen besuchen, wenn sie die Daten von PISA oder anderen Studien nehmen, wenn wir 50 Prozent der Hauptschulabsolventen in den basalen Kulturtechniken, Lesen, Schreiben, Rechnen auf einem Level von Stufe eins oder schlechter haben, dann verweigern wir denen jede aktive Handlungsfähigkeit. Insofern muss man etwas tun. Völlig klar.

Und dann sind diese Modelle, die diese strikte Abkapselung von Bildungsgängen aufheben und zweigliedrige Systeme bauen, ganz wichtig und elementar. Nun muss man auch positiv sehen. Das erste Beispiel, das wirklich produktiv da war, war ja der Vorschlag in Hamburg, der jetzt ja auch realisiert wird. Ich würde Skepsis entwickeln, wenn man dabei Modelle baut, die Hauptschulen, Realschulen dann doch wieder von gymnasialen Bildungsgängen abkoppeln.

Der Pfiff in Hamburg bestand ja gerade darin, dass man alle, auch abiturführende Bildungsgänge vereinigt, in sich differenziert und dann etwas gemacht hat, was gerade für bisher wenig beteiligte soziale Gruppen an Bildungsprozessen wichtig war, andere Erfahrungen besser bewerten, andere curricula ermöglichen, ein anderes Zeitmuster in Schulen installieren, einen längeren geruhsameren Durchlauf, Quereinstiege. Das muss man machen, ganz wichtig.

Scholl: Wenn Sie morgen den Anruf aus dem Kanzleramt bekommen: Herr Prof. Tenorth, machen Sie mit bei der Bildungs-Taskforce, sagt Angela Merkel. Was würden Sie denn der Kanzlerin als Erstes vorschlagen?

Tenorth: Ich würde ihr zuerst raten, dass sie im Blick auf Bildung die alten Lösungen alle vom Tisch nimmt. Und wenn sie eine Runde von interessierten Experten, Betroffenen, Beteiligten, Kompetenten zusammensetzt, sich in einer Weise beraten lässt, die den deutschen Ballast an bildungsideologischer Diskussion in Ruhe zur Seite legen kann und sich auf zwei, drei gute Befunde stützt, von denen wir wissen.

Das Erste ist, Schule wird nur besser, wenn ich die Einzelschule so stark mache, dass sie sich autonom adressatenspezifisch entwickeln kann und es ist keine Systemfrage. Die Einzelschule entscheidet.

Schule wird nur dann besser, ist der zweite Punkt, wenn man die Lehrprofession, die das tut und im Alltag machen muss, Lehrer, Lehrerinnen tatsächlich so moralisch in der öffentlichen Reputation, aber auch in der Bezahlung, in der Arbeitszeit unterstützt, dass sie das tun können, was sie können, wenn man sie das tun lässt.

Und das Dritte, wenn man nur auf Schule sich bezieht, man kann das nur gut machen, wenn man lokal denkt, nicht nur über die Einzelschule und die Lehrer hinaus, sondern auch in das jeweilige Umfeld hinein. Ohne die Eltern mitzunehmen und die Eltern zu unterstützen, wird das nichts werden. Darum herum kann man dann was bauen. Da muss man u.a. sagen, es fehlt Geld. Aber das Geld ist nicht das Erste, sondern diese Art von Autonomisierung und Freisetzung, das würde ich zuerst empfehlen.

Scholl: Heute tagen Bund und Länder in Dresden auf einem Bildungsgipfel und bei uns war der Erziehungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth. Ich danken Ihnen für das Gespräch!