Tanzen gegen Vorurteile

Anne Linsel und Joy Wonnenberg im Gespräch mit Britta Bürger · 14.03.2010
Pina Bausch hat ihr Tanztheaterstück "Kontakthof" kurz vor ihrem überraschenden Tod mit einer Gruppe Jugendlicher inszeniert. Die Proben begleitete Anne Linsel mit der Kamera. Ihr Dokumentarfilm "Tanzträume" zeigt, wie sich die Jugendlichen durch den Tanz verändern und ist zugleich eine Art Vermächtnis der Pina Bausch.
Britta Bürger: Pina Bausch hat ihr legendäres Tanztheaterstück "Kontakthof" insgesamt dreimal inszeniert: Zuerst mit ihrer Proiftruppe, dann mit Laien im Rentenalter und zu guter Letzt noch mal mit Jugendlichen. Als Anne Linsel beschloß, über dieses Jugendprojekt einen Film zu machen, da ahnte niemand, dass daraus ein Vermächtnis werden würde. Es sind tatsächlich die letzten Filmaufnahmen von Pina Bausch, die im vergangenen Sommer überraschend gestorben ist.

"Tanzträume" - Jugendliche tanzen "Kontakthof". Bevor der Film am Donnerstag in die Kinos kommt, hatte ich am Rande der Berlinale die Gelegenheit, Regisseurin Anne Linsel zu treffen gemeinsam mit Joy Wonnenberg, einer der tanzenden Schülerinnen. Sie habe ich zuerst gefragt, was sie eigentlich über Pina Bausch gewusst hat, als sie das erste Mal zum Tanztraining gegangen ist?

Joy Wonnenberg: Ich wusste gar nichts über Pina Bausch, also, ich bin da wirklich hingegangen, ich wusste nur, dass das eine Frau war, die ein Tanztheater halt hat, und das war halt neben dem Cinemax. Mehr wusste ich darüber nicht. Ich habe da einfach nur mitgemacht, weil es von der Schule angeboten worden ist. Ich habe gedacht, ja, machst du mal ein bisschen mit.

Bürger: Und was hat dich daran gereizt?

Wonnenberg: Einfach mal was Neues auszuprobieren, das war, glaube ich, das, was mich am meisten irgendwie so dazu geführt hat, einfach da hinzugehen, ich weiß es nicht, es ist komisch zu beschreiben.

Bürger: Und die meisten aus der Gruppe hatten noch nichts von ihr gehört, waren ja ganz viele unterschiedliche Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Wuppertaler Schulen.

Wonnenberg. Ja, wir wussten alle nicht, wer Pina Bausch ist. Wir wussten nur, dass sie halt ein Tanztheater hat.

Bürger: Warst du bis dahin schon mal im Tanztheater?

Bürger: Nein, nie. Ich habe noch nie getanzt, ich habe nie Ballett gemacht, ich habe keinerlei Tanzerfahrungen, vielleicht ein bisschen Singen habe ich mal gemacht, aber sonst gar nichts, keine Bühnenerfahrung.

Bürger: Sie, Anne Linsel, wussten dagegen sehr viel über Pina Bausch. Was für eine Beziehung hatten Sie zu der Choreografin?

Anne Linsel: Erst einmal eine berufliche Beziehung. Ich habe ja das Glück, weil ich in Wuppertal lebe, Pina Pausch von Anfang an, also von 1973 an, kennenzulernen, ihre Inszenierungen kennenzulernen, sie persönlich dann auch kennengelernt zu haben. Und es hat sich da tatsächlich so etwas wie eine Freundschaft aus Distanz ergeben im Laufe der Jahre, das heißt, ich habe sie journalistisch begleitet, mit vielen Rundfunksendungen, und ich habe auch jahrelang Kritiken geschrieben – als ich dann aber doch immer mehr mit ihr befreundet war, habe ich das natürlich nicht mehr gemacht – und auch Filme gemacht. Und da wurde dann eben auch eine persönliche Beziehung daraus.

Bürger: Pina Bauschs legendäres Stück "Kontakthof", das hatten Sie vielfach gesehen. Es gab also das Original, es gab eine Version mit Laien, mit, wie Pina Bausch es nannte, Damen und Herren über 65, und nun ist es vor Ihrer Kamera noch mal neu erschaffen worden mit Jugendlichen. Welche Momente haben Sie dabei besonders interessiert?

Linsel: Es geht ja in dem Stück um ganz existenzielle Dinge, um Liebe, Hoffnung, Wünsche, Träume. Die Senioren, also die Damen und Herren ab 65, haben das gemacht mit ihrer ganzen Lebenserfahrung, und das spürt man auch auf der Bühne.

Die Jugendlichen – das war für mich am Anfang das Spannende: Was zeigen die eigentlich? Haben die das eigentlich auch schon erlebt? Und dann habe ich feststellen müssen: Ja, die haben auch sich im Kindergarten schon verliebt. Aber das ist natürlich was ganz anderes. Es kam eben beides: das, was sie als Jugendliche, Kinder erlebt haben, aber auch doch die Hoffnungen und Wünsche. Ich glaube, das waren eben diese emotionalen Momente, die mich sehr interessiert haben, die ich spannend fand und die dann wirklich auch faszinierend waren.

Bürger: Wobei sie natürlich, die Jugendlichen, vieles auch noch gar nicht erlebt hatten. Ein Junge im Film sagt zum Beispiel: So wie bei Pina Bausch habe ich noch nie ein Mädchen berührt. Das hat mich wiederum sehr berührt, wie er das gesagt hat. In diesem Stück geht es eigentlich ausschließlich um Gefühle, um Annäherungen, um Abgrenzungen, um Blicke, Berührungen, Bewegungen, die sich alle mit Bedeutung aufladen. Es geht aber auch um Scham, um Peinlichkeit, um Angst, um Wut. Es wird gelacht und geweint. Was war, Joy, für dich dabei am allerschwersten?

Wonnenberg: Sich jemandem anzuvertrauen, einfach einer ganze Gruppe von ganz vielen verschiedenen Menschen anderer Herkünfte, die kamen von ganz anderen Schulen. Es war einfach schwierig, mit den Leuten auf einmal so nah in Kontakt zu treten und die wirklich anzufassen, was von uns natürlich auch so ein Stück weit verlangt wurde, was natürlich am Anfang sehr noch freigestellt wurde, ob wir das jetzt wollen oder nicht wollen, nur hinterher wurde es dann immer ernster. Und das war schon wirklich ein bisschen Überwindung, bevor man den Leuten überhaupt vertraut: Wie sind die so drauf? Das war ganz schwierig zu Anfang.

Bürger: Du musstest das ja nicht alles nur vor dir selbst aushalten, du musstest das vor deiner Gruppe zeigen, vor den beiden Choreografinnen, Jo Ann Endicott und Bénédicte Billiet, ehemalige Tänzerinnen aus der Pina Bausch Kompanie, die das mit euch erst mal einstudiert haben, und du musstest es natürlich vor Pina Bausch zeigen, die immer häufiger in die Proben gekommen ist und zuletzt vor der Kamera. Das hat mich erstaunt: Man hat den Eindruck, dass ihr das Filmteam völlig vergessen habt dabei. War das so?

Wonnenberg: Zum Anfang war das ganz ungewohnt, dass da auf einmal eine Kamera und die Anne Linsel dabei war, und der Rainer auch, und es war wirklich – oh Gott, da ist eine Kamera. Wie sollst du dich jetzt verhalten? Es war ganz, ganz schrecklich, weil man hatte so das Gefühl erst mal, oh Gott, du kannst dich jetzt gar nicht mehr normal benehmen, du musst die ganze Zeit dich richtig benehmen und musst dich anständig geben. Aber zum Schluss war es wirklich so, ach ja, da ist die Kamera, Anne Linsel ist wieder da, es war wieder eine ganz normale Probe. Hinterher hat man sich wirklich daran gewöhnt und hat die Kamera einfach auch ein Stück weit ausgeschaltet.

Bürger: Und Pina Bausch sagt an einer Stelle: Am schönsten seid ihr dann, wenn ihr ihr selbst seid, also gar nicht verkrampft seid, was wahrscheinlich wirklich sehr, sehr schwer war. Anne Linsel, gab es Situationen, in denen Sie sich bewusst zurückgezogen haben oder bei denen Sie auch nicht dabei sein durften?

Linsel: Ganz zum Schluss gab es diese Situation: Nach der letzten Probe vor der Premiere sind alle auf der Bühne zusammengekommen und Pina Bausch wollte mit den Jugendlichen sprechen und ihren Dank ausdrücken. Und da hat sie uns gebeten, mit der Kamera wegzugehen. Das hat uns sehr betroffen gemacht zunächst. Ich bin dann mit dabeigeblieben, aber eben ohne Kamera, und ich habe es dann wirklich richtig gut verstanden, dass sie es nicht wollte.

Pina Bausch war ja eine sehr zurückhaltende Frau, die sich also auch nie vor der Kamera produziert hat. Sie hat den Jugendlichen gedankt und gesagt, wie froh sie ist, dass die nun sozusagen dieses Stück weitertragen, und sie hatte Tränen in den Augen, also, sie war sehr berührt von dieser ganzen Geschichte. Ja, und dass sie das nicht wollte, dass wir das drehen – ich habe das wirklich dann verstanden und natürlich auch akzeptiert.

Bürger: Das Ganze folgt ja einem ähnlichen Prinzip wie das Education Project der Berliner Philharmoniker. Das kennen wahrscheinlich viele von der Bühne oder auch aus dem Kino, "Rhythm is it" zum Beispiel, dieses Tanzprojekt von Simon Rattle. Und darin wie auch in ihrem Film, Anne Linsel, wird deutlich, wie stark so ein Projekt Jugendliche zusammenschweißt, dass tatsächlich darüber auch Vorurteile abgebaut werden. Haben Sie denn am Anfang Vorurteile gespürt?

Linsel: Also, als wir dazukamen – wir waren ja nicht gleich am ersten Tag da –, da habe ich das nicht gespürt. Aber es hat diese Vorurteile gegeben. Die Jugendlichen sagen das ja auch.

Bürger: Was hattest du selbst für Vorurteile, Joy, oder hast du welche gespürt, die man dir gegenüber hatte?

Wonnenberg: Ich glaube, da hat es viele Vorurteile gegeben, ich habe nur da einfach ... man wusste einfach nicht viel von den anderen, man wusste nicht, wo der herkommt, was der selber für familiäre Verhältnisse hat, oder zum Beispiel: Bei mir ist es sehr offensichtlich, dass ich sehr dünn bin. Und natürlich denkt jeder: Vielleicht hat die ein Problem. Das ist aber nicht so. Aber man muss erst mal mit diesen Vorurteilen wirklich umgehen können und das den Leuten dann auch versuchen, klarzumachen, dass es einfach auch sehr dünne Leute gibt und dass es manchmal wirklich schwierig ist, den Leuten das zu beweisen, dass man die gleiche Kraft hat wie ein anderer Tänzer da. Und dann muss man sich auch erst mal durchsetzen und sich behaupten.

Bürger: Und das ist aber auch ja etwas, was mit den Stücken von Pina Bausch korrespondiert hat. In deren Kompanie gab es ja auch immer einzelne Tänzerinnen, die besonders groß waren zum Beispiel, oder besonders dünn oder ja, auch üppiger und runder, als man es von Tänzerinnen normalerweise kennt. Und das hat sich eigentlich in eurer Kompanie dann, fand ich, sehr schön doch gespiegelt.

Viele der Jugendlichen, das erzählt der Film ganz beiläufig, du hast es auch schon angedeutet, haben in ihrem Leben eine ganze Reihe von harten Erfahrungen machen müssen, als Flüchtlinge zum Beispiel, als Kinder von Alleinerziehenden, was auch bei dir der Fall ist. Dein Vater ist bei einem Unfall gestorben, das erzählst du in dem Film auch, und das fand ich sehr, sehr berührend, wie du dann vor der Kamera erzählst, dass dein Vater bestimmt sehr stolz auf dich gewesen wäre, wenn er dich in diesem Stück gesehen hätte. Inwieweit hat denn das Projekt dein Leben verändert?

Wonnenberg: Ich bin auf jeden Fall sehr selbstbewusst geworden. Ich weiß, wie ich jetzt selbst zu mir stehe, dass ich einfach mit mir selber zufriedener geworden bin, weil man fühlt sich ja in einem bestimmten Alter nicht besonders wohl in seinem Körper. Und ich glaube, durch das Tanzen habe ich einfach gemerkt, ich kann stolz darauf sein, was ich gemacht habe, dass ich einfach so bin, wie ich bin und dass man daran einfach nichts ändern kann. Durch Pina Bausch hat sich das halt wirklich alles bei mir normalisiert und ich bin auch wirklich so glücklich, dass es jetzt einfach gut ist.

Bürger: Und du hast ja auch in der Premiere dann die Hauptrolle getanzt, du hast sie ja bekommen, Pina Bausch hat darüber entschieden. Der Film dokumentiert zugleich das letzte Interview mit Pina Bausch, einen Ausschnitt daraus haben wir schon gehört, in dem sie erzählt, eben wie glücklich sie über dieses Projekt ist und dass sie damit den Tanz als Kunstform einer neuen Generation zugänglich machen wollte. Und es ist sehr, sehr schön, wie die Kamera dann ganz ruhig auf dem Gesicht von Pina Bausch verweilt, während sie die Jugendlichen beobachtet. Insofern ist der Film nach Pina Bauschs plötzlichem Tod wirklich ein Vermächtnis, ein schöner Film, der aber auch traurig macht, oder?

Linsel: Ja, natürlich macht der traurig. Andererseits glaube ich, dass Pina Bausch wirklich auch gerade mit ihrem letzten Stück – sie hat ja bis zehn Tage vor ihrem Tod gearbeitet –, dass die wirklich ihr Leben vollendet hat und das ist dann auch wiederum tröstlich.

Bürger: Gibt es etwas von Pina Bausch, Joy, was dir besonders in Erinnerung geblieben ist, ein Satz, eine Frage, eine Geste?

Wonnenberg: Sie hat immer gesagt: Bleibt einfach so, wie ihr seid, ihr sollt euch nicht verstellen. Sie hat immer zu uns gesagt: Ihr seid alle so schön, und sie war immer so glücklich, wenn sie uns gesehen hat. Was mir auch immer ganz doll im Kopf bleibt: Sie hat einfach immer irre viel geraucht. Wirklich, selbst bei den Proben, es war einfach Pina, sie kam rein, hat sich dahin gesetzt. Es war immer eine ganz andere Atmosphäre, wenn Pina da war, wir haben uns alle benommen, wirklich, wir waren ganz erzogen in dem Moment, aber es war ... Pina hat einfach immer nur geguckt, und hat dann hinterher die Kritik dann gegeben, was war gut, was war nicht so gut, was könnte man verbessern. Und es gibt so viele Dinge, die einfach Pina Bausch so unverwechselbar gemacht haben, das kann man eigentlich gar nicht alles aufzählen.