Tabuthema Suizid

Wie kann ein offener Umgang mit dem Thema gelingen?

Grabstein mit Inschrift
Die Erinnerung an Menschen, die sich das Leben genommen haben, ist für die Angehörigen mit vielen Fragen verbunden. © imago/Martin Bäuml Fotodesign
Von Dorothea Brummerloh · 20.02.2017
Suizid begegnet uns, wenn im Familienkreis oder unter Bekannten jemand sich selbst tötet oder es versucht hat. Angehörige geraten nicht selten in die soziale Isolation. Aber müssen wir nicht diesem Menschen Respekt zollen, auch wenn seine Entscheidung eine Absage an die gemeinsame Zukunft war?
"Sind Sie ganz gut durchgekommen? − Ja, ging, bisschen Stau gewesen… obwohl ich erst um halb vier da sein wollte, bin ich doch überpünktlich …"
Einmal im Monat treffen sich im Haus der Gesundheit Osnabrück Männer und Frauen für ein paar gemeinsame Stunden. Sie sitzen dann an dem großen runden Tisch, auf dem schon Kaffee und die bunten Kaffeebecher bereit stehen. Gemütlichkeit macht sich breit, wenn der Kaffee seinen Duft im Raum ausbreitet. Ein gewöhnliches Kaffeekränzchen ist es trotzdem nicht:
"Warum ich hergekommen bin? Weil ich mich irgendwie mitteilen wollte. Ich habe mir auch eine Schicksalsgemeinschaft erhofft. Weil ich mich gut aufgehoben fühle und eben nicht alleine, weil mich die Menschen in der Selbsthilfegruppe verstehen. Wir können uns Mut machen. Wir können aber auch zugeben, wenn wir ziemlich verzweifelt sind und nicht weiter wissen."
Alle Gruppenmitglieder haben einen nahestehenden Angehörigen verloren. Nicht durch Unfall oder eine unheilbare Krankheit. Hier trifft sich die Selbsthilfegruppe AGUS. AGUS bedeutet: Angehörige um Suizid.
"− Wir haben Namenskarten, damit man weiß, mit wem man spricht. Und sagen nur, um wen wir trauern. Danach ist dann die Möglichkeit, dass irgendjemand erzählt, was ihm in den letzten vier Wochen wichtig war oder auch fragt.
− Es fängt einer an, und dann ergibt sich das. Man reagiert drauf, und dann ergibt sich das Gespräch von ganz selbst. Mit der ganzen gesamten Gruppe dann.
− Wie ging es dir denn in den letzten vier Wochen?
− Mir geht es jetzt in dieser Zeit, obwohl das mit dem Tod meines Sohnes fast zehn Jahre her ist, wieder nicht so gut, weil das diese Vorweihnachtszeit ist, es ist einfach so. Da kommt es auch nicht darauf an, wie lange der Tod her ist, diese Stimmung schwankt, das Traurigsein schwankt, ne.
− Ja, ich mache das im ersten Jahr mit, zum ersten Mal mit Weihnachten, ich merke, dass das traurig macht, mein Sohn ist im Februar gestorben, jetzt ist das erste Weihnachten ohne ihn, das muss man irgendwie klarkriegen."
So oder so ähnlich läuft es ab, erklären die Anwesenden, die fast vergessen zu scheinen, dass dies ein Interviewtermin ist. An einem Treffen teilzunehmen, war nicht möglich. Aus verständlichen Gründen: AGUS bietet eine geschützte Atmosphäre, wo die Betroffenen über alles, wirklich alles sprechen können, weil das draußen in der Gesellschaft, im alltäglichen Leben einfach nicht möglich scheint.

Theologische Verwerfung des Selbstmords

Thomas Macho: "Es ist in der Tat schwierig, darüber zu reden, weil der Suizid über viele Jahrhunderte lang ein Tabu war und natürlich in der Gegenwart auch immer noch ist."
Thomas Macho, Kulturwissenschaftler und Philosoph.
"Es galt eben jahrhundertelang als eine Sünde, als eine schwere, womöglich gar besonders schwere Sünde, weil sie eben auch das Seelenheil des Sünders verwirke."
Diese Todsünde widerspiegelt sich schon im Ausdruck "Selbstmord", der auf Martin Luther zurückzuführen ist. Selbstmord, das beinhalte die theologische Verwerfung der Tat:
"Weil man eben behauptet hat, dass man beim Suizid eine Art von Doppelmord nicht nur am eigenen Körper, sondern auch noch an der eigenen Seele begehe, dadurch dass man sie der ewigen Verdammnis überantwortet."
Der Suizid stand bis in die Mitte des 20. Jahrhundert noch unter Strafandrohung: in Großbritannien bis 1961, in Israel sogar noch bis 1966. Im 17. Jahrhundert wurden sogar die Angehörigen bestraft, indem man das Vermögen des Suizidenten einzog. Deshalb waren in dieser Zeit auch Abschiedsbriefe ein Tabu. Und es ist noch nicht lange her, da verweigerten die Kirchen Menschen, die sich selbst töteten, eine Bestattung nach christlichen Ritualen. Erst seit 1983 sind die katholischen Priester verpflichtet, Suizidopfer zu beerdigen. Sprachlosigkeit und verdruckste Beschreibungen zeigen, wie ambivalent bis heute das Bild vom Menschen ist, der sich selbst tötet. Man spricht verklausuliert vom "Hand an sich legen", "seinem Leben ein Ende setzen". In Österreich, der Heimat Machos, sagt man: "die sich heimdrehen".
Thomas Macho: "Freitod ist wiederrum eine positive Besetzung und Bewertung des Suizides, die auch wiederum öfter in Frage gestellt wird. Weil ja nicht ganz klar ist, wie frei ein Suizident im entscheidenden Moment wirklich ist. Es ist so eine terminologische Schwierigkeit, die gleichzeitig auf eine inhaltliche Problematik verweist, nämlich auf Jahrhunderte der Skepsis, der Vorsicht im Umgang mit dem Suizid."
"So wenig einen 'Mord' begeht, wer sich umbringt, so wenig 'frei' ist, wer in den Freitod geht", schrieb der Publizist Roger Willemsen. Selbst Willemsen, denk-und wortgewaltig, konnte das Dilemma der Begrifflichkeit für sich nicht ganz lösen: Er nennt sein Buch "Der Selbstmord", blieb bei der, wie er sagt, "alten, nicht mehr moralisch verstandenen Wendung". Für ihn zeigte sich bei dem, was über Selbstmord geschrieben und geredet wird, nicht das Tabu des Todes, sondern eher "der Terror des Lebens, die Stilisierung der Existenz zum ersten Wert". Angehörige berichten immer wieder von einer sozialen Isolation nach dem auch für sie Unfassbaren.

Angst vor der "Infektion"

David Althaus: "Es ist ganz selten so, dass ein Mensch, der einen anderen Menschen durch Suizid verloren hat, auf jemanden trifft, der wirklich ganz offen und ehrlich nachfragt: Erzähl, was ist dir eigentlich geschehen? Wie geht es dir jetzt?"
David Althaus, Psychologe und Psychotherapeut.
"Die Menschen draußen haben oft einfach nicht den Mut, diese Fragen zu stellen. Man hat Angst davor, dass das fast infektiös ist, dass man damit etwas in die eigene Familie hereintragen könnte, was dort auf keinen Fall sein darf. Suizid darf bei uns nicht sein. Nur in anderen Familien. Tatsächlich sind die Vorurteile von der Außenwelt in Bezug auf Suizid ganz besonders groß und auch die Missverständnisse sind besonders groß."
Bei Familie B.: "Hier ist Chrisis SL … unser Junge hat ja früh angefangen mit Fahrrad fahren… das ist eben seine Welt gewesen. Fahrrad fahren, obwohl er 24 schon war, seine Welt."
Ein Mann, Ende 40, führt in das Obergeschoss des Einfamilienhauses, vorbei an einem von der Decke des Treppenhauses hängenden Mountainbike. Dann zeigt er das Zimmer von Christian, seinem Sohn:
"Hier hat er geschlafen und hier war alles so voll … Dahinten… Er hat immer so einen Bären gehabt. Der war immer vollgesabbert, der hat immer gesabbert beim Schlafen und der hat immer in seinem Bett diesen Bären gehabt. Den haben wir ihm mitgegeben."
Der 49-Jährige war zusammen mit seiner Frau auf einer Kulturveranstaltung. Entgegen seiner Gewohnheit, sein Handy auf "lautlos" zu stellen, schaltete er es während der Veranstaltung aus.
Familie B.: "Und in der Pause habe ich es dann angemacht, aus Gewohnheit und dann habe ich die Nachrichten bekommen. Also der Christian hat per WhatsApp angekündigt, dass er sich das Leben nehmen möchte. Er hat sich bedankt für das schöne Leben und hat sich bedankt dafür… dass wir ihn immer unterstützt haben… Genau, dafür hat er sich bedankt. Und der Suizid war so zwischen den Zeilen geschrieben. Und für mich war es noch gar nicht klar gewesen, dass er das macht. Sondern ich dachte mir, vielleicht packt er auch seine Sachen und geht. Und dann habe ich ihn gefunden."
Durchschnittlich alle 56 Minuten nimmt sich in Deutschland ein Mensch das Leben. Alle sechs Minuten, so schätzen Fachleute, versucht es jemand. Durch Selbsttötung sterben mehr Menschen als durch Verkehrsunfälle, Mord, Gewaltverbrechen, illegale Drogen und AIDS. 2014 waren es 10.209, dreimal so viele wie Verkehrstote. Hinter diesen nüchternen Zahlen stecken allerdings nicht nur die Toten und ihr Schicksal, sondern auch ihre Familien.
Familie B.: "−Is es dette? − Nee, wa? − Mach mal das erste Lied! Ist das das erste? − Keine Ahnung… − Das müsste es sein… − Sicher? − Ja… Ja, das ist es. (Rammstein-Lied "Ich werde in die Tannen gehen")
Die Eltern des 24-jährigen Christian sitzen am Küchentisch, suchen nach einem Lied der Gruppe Rammstein. Endlich haben sie es gefunden. Warum gerade dieses Lied, wird schon nach den ersten Takten klar.
Familie B.: "Das ist eins von seinen Lieblingsliedern. Und die Musik durften wir dann auch zu seiner Beerdigungsfeier in der Kirche mit abspielen… Musik...wo die Flashbacks kommen...das ist so passend. − Also er hat Rammstein schon immer, sämtliche CDs von Rammstein gehabt. Hat Rammstein immer richtig gut gefunden − Und das spielt man bei der Beerdigung in der Kirche und da denkt man sich, ach du Scheiße, das haben wir zusammen mit den Kumpels rausgesucht."

60.000 Hinterbliebene pro Jahr

Suizid ist in jedem Fall eine Tragödie. Zugleich aber werden die Zurückgebliebenen vor den Kopf gestoßen, ist es doch die Absage an eine gemeinsame Zukunft.
Jeder Suizidtote hinterlässt im Schnitt sechs nahe Angehörige. Das sind 60.000 Hinterbliebene im Jahr: Eltern, Geschwister, Ehepartner. Aber auch Freunde, Nachbarn, Kollegen. Menschen wie die Bs., die unvorbereitet in eine Situation geraten, die sie sich nicht ausgesucht haben und in der sie völlig verstört zurückbleiben.
Familie B.: "Am Anfang ist es wirklich schwer. Also wenn man in der wirklich tiefen Trauer drin ist, ist es richtig schwer. Ich glaube, wenn ich alleine gewesen wäre, hätte ich es gar nicht geschafft. − Ich habe sogar überlegt, ob ich hinterher gehe. Was hast DU falsch gemacht, dass sich DEIN Kind das Leben genommen hat?"
David Althaus: "Einen geliebten Menschen zu verlieren, ist sowieso schon eine unglaublich schwere Erfahrung. Einen Menschen dadurch zu verlieren, dass er durch eigene Hand stirbt, ist noch einmal ein ganz besonderes Trauma, weil hier immer der Aspekt der Schuld mitschwingt. Warum haben wir nichts gemerkt? Warum hat er sich uns im Vorfeld nicht anvertraut? Wir hätten zusammen doch alles gemacht, alle Hilfe gesucht, um ihn zu unterstützen. Und dieser Gedanke, dieses sich selber quälen mit der ewigen Frage des Warum ist sehr, sehr belastend. Und hier besteht auch ein ganz besonders großes Stigma innerhalb unserer Gesellschaft. Also eine Familie, wo sich ein Suizid ereignet, ist für viele Menschen eine von vornherein eine kranke Familie. Und das ist etwas, was mit zu den hartnäckigsten Vorurteilen gehört in Bezug auf Suizid."
"In der Familie muss doch etwas falsch gelaufen sein" − das ist noch das Harmloseste, was Psychotherapeut David Althaus schon von Betroffenen gehört hat. Der Suizid wird auch als ein Schlussstrich nach einem elenden Scheitern oder nach einem kläglichen Versagen bewertet.
Der Kulturhistoriker Thomas Macho
Der Kulturhistoriker Thomas Macho© dpa / picture alliance / Patrick Pleul
Thomas Macho: "Es gibt ganz viele Gründe für Suizide und natürlich ist die Auskunft Depression deshalb manchmal auch eine unzulässige Vereinfachung, wenn man entweder es nicht genau weiß, aber auch nicht zu genau zu sagen wagt. Dann kommt halt immer wieder dieses Schlüsselwort ins Spiel. Ich habe mal eine gute Freundin, deren Schwester sich das Leben genommen hat, sagen hören: Ich glaube, es war ihr Weg. Das fand ich mutig und manchmal ist es eben so und das zu akzeptieren fällt nicht leicht, weil man da auch den aggressiven Anteil, der darin liegt – da ist jemand, der sich das Leben nimmt und ja auch sagt, dass er mit uns nicht mehr leben will – dass wir den auch akzeptieren und respektieren müssen."

Von 9/11 bis zum Germanwings-Absturz

Wie schwer die Akzeptanz selbst unter ausweglosen Bedingungen fällt, zeigte sich auch nach dem 11.September 2001 in New York. Zahlreiche Menschen sprangen von den attackierten Türmen in den Tod. Das Sterben war ihnen gewiss. Sie sprangen, um den Flammen und dem Rauch zu entkommen. Dennoch leugneten Behörden dies, sprachen davon, dass diese Menschen "herausgeschleudert" wurden. So waren sie Mordopfer.
Aufklärung tut Not. Sprachlosigkeit muss überwunden werden. Doch das scheint eine Gratwanderung zu sein. Obwohl es viel Literatur zum Thema gibt, gelangt wenig über Selbsttötung in seriöse Medien. Meist wird nur kurz über diesen extremen Gewaltakt gegen sich selbst gesprochen, wenn sich ein Prominenter, wie der Fußballer Robert Enke, das Leben nimmt. Oder wie im Fall des Piloten, der am 24. März 2015 ein Flugzeug zum Absturz brachte und 149 Menschen mit in den Tod zwang. In diesem Falle gab es presserechtliche Abmahnungen, weil einige Medien Grenzen überschritten. Ansonsten gilt: Keine öffentliche Debatte, zurückhaltende Berichterstattung, keine voyeuristischen Details, keine Idealisierung der Tat und des Motivs. Aus gutem Grund.
Thomas Macho: "Man hat auch noch Sorge, über den Suizid zu reden, weil das Gerücht einem im Hinterkopf Beschwerden verursacht, dass der Suizid oder dass der Diskurs über den Suizid auch Nachahmungssuizide zur Folge haben kann."
1974 verwendete der US-amerikanische Soziologe David Phillips erstmals den Begriff "Werther-Effekt" für die Nachahmungen medial vermittelter Suizide.
David Althaus: "Wir kennen den sogenannten Werther Effekt, der auf Goethe zurückgeht. Der hat ein Buch publiziert 'Die Leiden des jungen Werther', wo ein junger Mann sich das Leben nimmt und man hat damals festgestellt, dass nach der Veröffentlichung dieses Buchs sehr viele Menschen das nachgemacht haben, also auf gleiche Art und Weise, in gleicher Kleidung sogar... sich das Leben genommen haben."
1981 sendete das ZDF die Serie "Tod eines Schülers", in der der Suizid eines 19-Jährigen aus verschiedenen Perspektiven nachgezeichnet wird. Wissenschaftler haben einen Anstieg an Selbsttötungen im Zusammenhang mit der Ausstrahlung der Serie nachgewiesen, so dass bei der Wiederholung auf eine Darstellung des Suizids verzichtete wurde.
Es gibt aber auch den umgekehrten Effekt: den Papageno-Effekt. Der Name ist angelehnt an eine Szene aus Wolfgang Amadeus Mozarts Oper "Die Zauberflöte", in der der lebensmüde Papageno zum Weiterleben überredet wird. Der berühmteste Fall von Suizidprävention in der Kulturgeschichte dient als Vorbild für eine Berichterstattung über "Lebensmüde", die einen Weg fanden, ihre schwierige Lebenssituation zu bewältigen oder zu verbessern.
In jedem Fall gebietet die Berichterstattung Zurückhaltung, um Nachahmungen zu verhindern, aber auch um das Leid der Angehörigen nicht zu verstärken, die sich ohnehin mit mehr als dem Suizid auseinandersetzen müssen.

"Ich muss sie in den Arm nehmen"

Nadja Meier* zeigt das Zimmer ihrer Tochter: ein großer, heller Raum mit Schaukelstuhl, Schreibtisch und einem schmiedeeisern verzierten Bett. An der Wand hängen Poster aus dem Film "Alice im Wunderland". Ihre Tochter war Fan der "Roten Königin", der Schauspielerin Helena Bonham Carter. Nadja Meier* setzt sich auf das Bett, blättert in einem Fotoalbum:
"… und das ist ihre beste Freundin … Da haben sie diese Holy-shit-Party gemacht und da sah sie aus. Es war so toll. Es hat ihr so ein Spaß gemacht und sie hat Pläne, dass alles mitzumachen … (blättert) … Da ist sie dann schon bisschen älter…"
Die 53-Jährige war mit ihrem Mann und dem jüngeren Sohn im Urlaub, als sie den Anruf erhielt. Die Heimfahrt erlebt sie wie in Trance, beseelt nur von dem Wunsch:
"Ich muss sie in den Arm nehmen, ich muss unbedingt halten, ich muss mein Kind in den Armen halten… (weint)… Ich habe gesagt, ich möchte ihren Kopf halten, ich möchte ihr einen Kuss geben … diesen Körperkontakt wollte ich wieder haben."
David Althaus: "Ein Mensch, der sich vor einen Zug gestellt hat, ist in seiner Körperlichkeit völlig zerstört. Trotzdem ist für manche Eltern es ein ganz großes Bedürfnis, auch dann noch Abschied nehmen zu können von den körperlichen Überresten des Menschen. Und es gibt heute einige Bestattungsinstitute, die versuchen, die Eltern in diesem Wunsch zu unterstützen und die ganz großartige Möglichkeiten für diese Eltern auch finden, wie das möglich sein kann."
Nadjas Freundin Kate*, die ebenfalls anonym bleiben möchte, wollte genau dieses Abschiednehmen, auch wenn die Todesumstände ihrer Tochter ebenfalls äußerst tragisch waren:
"Für mich war nur eins wichtig: Ich möchte wissen, ist das mein Kind, was sich das angetan hat. Um auch für mich zu realisieren, überhaupt realisieren zu können, dass mein Kind tot ist … Alle haben mir davon abgeraten: Tu dir das nicht an, dein Kind so verstümmelt anzugucken. Und ich war damit völlig alleine gelassen mit dem, dass ich das gerne möchte."

Hoffnung, dass alles nur ein Irrtum war

Eigentlich will man damit die Angehörigen nur schützen, die nicht als letztes Bild den im Tode geschundenen Körper in Erinnerung behalten sollen. Doch das tut auch nicht Not, erklärt David Althaus. Es genügt eine Hand oder ein Arm, den man zum letzten Abschied noch einmal berührt, zärtlich drückt:
"Ich stelle bei meinen Patienten, die nicht die Möglichkeit hatten Abschied zu nehmen, immer wieder fest, dass die Realität des Todes bei ihnen viel schwieriger nur ins Bewusstsein eindringen kann und dass sie oft auch nach Jahren noch hoffen, dass dies vielleicht alles nur ein Irrtum war. Und da hilft diese Abschiednahme ungeheuer viel, auch wenn es manchmal eine Zumutung sein kann."
Den Tod anzunehmen, zu akzeptieren, ist eine Last, die viele Betroffene zu erdrücken droht. Schon das übersteigt die Grenzen der eigenen Vorstellung. Doch manchen Angehörigen wird noch mehr aufgebürdet: Rechnungen für Gleisreinigung, Nachfragen der Lebensversicherungen, Schadensersatzforderungen.
Kate Freitag/ Nadja Meier: "Ich habe vier Wochen nach ihrem Tod einen Brief erhalten von einem Rechtsanwalt, in dem mir mitgeteilt wurde, wenn ein Erbe von meiner Tochter da wäre, dass ich doch dann bitte den Schaden, der der Frau entstanden ist an ihrem Auto, dass ich den zu bezahlen habe… Wenn man diesen Brief liest, ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für ein Gefühl da in mir hochgekommen ist… − Es ist so, dass ich dann von der Eisenbahn-Unfall-Krankenkasse angeschrieben worden bin, die die Kosten für die ärztliche Behandlung, die entstandenen Kosten, was der Lokführer eben durch dieses Unglück erlitten hat, dass sie die Kosten beabsichtigen zu regressieren."
Ihre Tochter, erzählt Kate, hat damals nicht zu Hause, sondern in einer therapeutischen Wohngruppe gewohnt. So fühlte sie sich dafür gar nicht zuständig. Doch die Versicherung des Kostenträgers der Wohngruppe lehnte alle Ansprüche ab.
Kate Freitag: "Und dann sind sie also wieder auf mich zugekommen und meinten also, jetzt müssen wir von Ihnen, gucken Sie bitte in ihren Unterlagen nach und den Versicherungsschein, und teilen Sie uns das mit."

Ein bisschen Frieden

Frau O.*, eine Frau mit kurzen braunen Haaren und großer schwarzer Brille, geht zu einem mit hellem Sandstein eingefassten Urnengrab:
"Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten hier herzukommen."
Die 49-Jährige steht eine Weile in Gedanken versunken vor dem Grab ihres Bruders, dann räuspert sie sich kurz:
"Das Gefühl, dass da sein Name drauf steht und sein Geburtsdatum bzw. Sterbedatum… also das ist schon jedes Mal hart. Ich habe den Stein ausgesucht. Er war ja auch so ein Naturmensch, hat getaucht und Harpunenfischen gemacht und deswegen wollte ich oben diese Wellen, diese Möwe… Das schafft dann wieder so ein bisschen Frieden für mich, dass es so ihn zum Ausdruck bringt auch."
Ihr Bruder lebte seit vielen Jahren in Australien, erzählt die Sportwissenschaftlerin. Sie hat nach dem Tod des Bruders seine Tagebuchaufzeichnungen gelesen, in denen er nicht nur sein Leben hat Revue passieren lassen:
"Und (hat) auch beschrieben, dass es nicht das erste Mal war, dass er daran gedacht hatte. Ich glaube, am Ende war auch so ein Stück Enttäuschung. Weil er hat ja wirklich viel getan, um irgendwie… Die Suche nach Anerkennung und das hat ja auch immer wieder funktioniert. Aber das kostet am Ende viel Kraft."
David Althaus: "Wir wissen, dass sich schon immer Menschen dazu entschlossen haben, sich selbst das Leben zu nehmen bei bestem Verstand. Allerdings muss man wissen, bei der überwiegenden Zahl der Menschen, die in Deutschland durch Suizid sterben, Menschen betroffen sind, die unter einer ganz schweren Depression leiden oder unter einer anderen ganz schwierigen psychischen Problematik."

Hohes Suizidrisiko bei jungen Menschen

Von 1945 bis 1985, also 40 Jahre lang, lag die Suizidrate in Deutschland bei 220 bis 240 pro Millionen Einwohner. Das sind doppelt so viele wie heute. Diesen Rückgang erklären Psychiater und Psychologen mit einer verbesserten Diagnostik, Therapie und Vorsorge, aber auch damit, dass psychische Erkrankungen heute weniger stigmatisiert werden als noch vor einigen Jahrzehnten.
Frau mit geschriebenen Wörtern im Gesicht als Symbolbild für Depressionen und Hilflosigkeit
Frau mit geschriebenen Wörtern im Gesicht als Symbolbild für Depressionen und Hilflosigkeit© imago / Westend61
Thoma Macho: "Und wir müssen das natürlich unterschiedlich beurteilen, ob jemand in einer Art von Midlifecrisis oder als Jugendlicher Suizid begeht oder ob ein alter Mensch. Das macht schon Unterschied, ob man sich im Gefängnis das Leben nimmt oder in einer psychiatrischen Anstalt. Das sind alles sehr diffizile und differenziert zu betrachtende Situationen."
Das Suizidrisiko ist bei jungen Menschen sehr hoch, fällt dann wieder ab und erreicht im Alter einen zweiten Gipfel. In diesem Zusammenhang wird oft der sogenannte "Bilanzsuizid" im Alter zitiert. Thoma Macho findet den Ausdruck problematisch:
"Man zieht Bilanz, man vergleicht Soll und Haben und macht dann den Schlussstrich und stellt die Rechnung auf. Hat dann schnell diesen ökonomischen Hintergrund, dass man darauf verweist, dass eben die Kosten für das letzte Lebens- oder Sterbestadium besonders hoch sind. Auf der anderen Seite ist es aber in der Tat so, dass ein Leben, das immer beschwerlicher und dramatischer und schmerzhafter verläuft, eben auch beendet werden können muss, ohne dass man das moralisch verurteilt."
Immer wieder wird das Recht auf Leben, aber eben auch das Recht auf den Tod diskutiert. Von Philosophen, Schriftstellern, Politikern, Ärzten, Theologen. 2015 gab es hitzige und heftige Debatten darüber, als es um die Novellierung der Sterbehilfe und den assistierten Suizid ging.
Dabei sind solche Diskurse nicht neu. Schon in der Antike gab es sie. Platon, ein griechischer Philosoph, vertrat die Auffassung: Wir gehören nicht uns! Und für die Stoiker war ein gutes Leben nicht unbedingt ein langes Leben. Wer unter Krankheit und Schmerzen leide, Armut, Hunger oder die Herrschaft eines Tyrannen ertragen müsse, solle lieber freiwillig aus dem Leben scheiden, lehrten diese Philosophen, sagt Thomas Macho.

Dem Toten Respekt zollen

Auch Frau O. hat sich nach dem Suizid ihres Bruders mit den verschiedenen Positionen auseinandergesetzt:
"Und es ist so schwierig, dort zusammen zu kommen und wertfrei alle Möglichkeiten zu diskutieren und deswegen ist es so schwierig, in der Gesellschaft damit offen umzugehen. Wenn ich sage: Ich gestehe einem Menschen zu, die Entscheidung in seinem Leben treffen zu dürfen − das ist mein Respekt, den ich zolle. Da weiß ich, da würden sozusagen 100 Menschen aufstehen und aufschreien. Ich respektiere das, dass ein anderer Mensch das anders sieht. In der Gesellschaft ist klar: Das müssen wir verhindern. Und ich bin ja auch ein sehr lebenszugewandter Mensch, für den das gar nicht in Frage kommt. Trotzdem habe ich das Bedürfnis, diese Möglichkeit auch offen zu halten und auch reden zu können."
Nicht nur Frau O. wünscht sich eine unaufgeregte Diskussion über den Suizid. Auch Thomas Macho plädiert für einen, wie er sagt, analytisch aufklärerischen Diskurs. Nur so kann es einen anderen Umgang mit dem Suizid und damit auch mit den zurückgebliebenen Angehörigen geben.
Thoma Macho: "Vielleicht müssen wir diese Haltung des Respekts vor der Entscheidung zum Suizid noch ein Stück weiter kultivieren und diese Idee, dass da jemand versagt und sei es im Umfeld des Suizidenten oder der Suizident selbst, die endlich mal verlieren."
David Althaus: "Letztlich ist das, was sich beim Suizid ereignet, etwas, was unseren Rahmen des Begreifens sprengt. Und mein Bestreben in der Therapie ist von Anfang an, den Menschen ein Stück weit die Schuld zu nehmen. Und ihnen gleichzeitig auch zu vermitteln, dass wir als Partner oder auch als Eltern natürlich nie ganz in den anderen hinein blicken können."
Eine Art Algorithmus dafür gibt es nicht. Und auch die Trauer ist individuell:
"Die Trauer ist der Prozess, der uns befähigen soll, mit einem Verlust langfristig umgehen zu können. Denn die Welt dreht sich erbarmungslos weiter und das eigene Kind oder der eigene Partner fehlt jetzt. Die Kinder der anderen machen Abitur, machen ihre Berufsausbildung, und all das ist ungeheuer schmerzlich und zwingt die Trauernden zu einer neuen Haltung, einer neuen Einstellung dem Leben gegenüber."
Herr B.: "Es gibt immer wieder Phasen, wo ich ihm böse bin… Wenn ich denn hier draußen bin und der Mond scheint und ich geh noch mal über den Hof und dann bin ich ihm böse, weil… wir zusammen ein Bier getrunken hätten jetzt. Ich bin auch wütend darüber, dass sich mein Leben so verändert hat. Ich hatte einen anderen Plan vom Leben gehabt, wo ich sage, Mensch, die Enkelkinder kommen bald aus der Schule − so ne Sachen und dann kommt halt Wut auf, weil er nicht mehr da ist, weil er sich davongeschlichen hat. Aber es ist nur so ein kurzer Ausbruch von Wut, der sich dann ganz schnell wieder in Trauer und Sehnsucht relativiert."
Das Leid rückt mit der Zeit aus dem Mittelpunkt des Lebens, aber es bleibt: für immer.
Herr B.: "Das Schlimmste ist, und davon bin ich überzeugt, wenn wir stecken bleiben in der Trauer, dann gehen wir kaputt, und wenn wir es nicht schaffen, dieses Dilemma irgendwann zu verlassen und das neue Leben auch zu akzeptieren und auch zu genießen."
* Namen auf Wunsch anonymisiert

Lassen Sie sich helfen: Haben Sie selbst Gedanken, die sich um das Thema Suizid drehen? Lassen Sie sich helfen und sprechen darüber. Hier erreichen Sie die Telefonseelsorge: unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222, aber auch per E-Mail und im Chat.

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