Stille Geburt einer todbringenden Seuche

Von Astrid Westhoff · 05.06.2006
Fünf Millionen Menschen infizieren sich jährlich mit dem für Aids verantwortlichen Erreger HIV. 25 Millionen sind seit 1981 an der Krankheit gestorben. Vor 25 Jahren wurde die Krankheit erstmals in einem Bericht einer US-amerikanischen Gesundheitsbehörde erwähnt.
"Vor einigen Jahren, als Aids in den USA bekannt wurde, dachte jeder, die USA sind weit und was geht das mich an?"

So beginnt der erste deutsche Aids-Aufklärungsspot 1987. In der Tat gab es anfangs keinerlei Bewusstsein, welches weltweite Problem sich da anbahnte.

Auch in den USA selbst nimmt kaum jemand Notiz von dem kurzen Bericht, der am 5. Juni 1981 in dem wöchentlichen Mitteilungsblatt der amerikanischen Seuchenkontrollbehörde CDC erscheint.

"Zwischen Oktober 1980 und Mai 1981 wurden fünf junge Männer, alles aktive Homosexuelle, in drei verschiedenen Hospitalen in Los Angeles wegen PCP behandelt. Zwei der Patienten starben."

PCP, das ist eine Kombination von Pilzinfektionen und Lungenentzündung.

"Das Auftreten dieser Lungenentzündung bei fünf vorher gesunden Menschen ohne einen zugrundeliegenden Immundefekt ist ungewöhnlich."

Bald darauf melden New Yorker Krankenhäuser der CDC, sie behandelten ungewöhnlich viele Homosexuelle mit einer sehr seltenen Krebsart, dem Karposi Sarkom. Nun bekommt das Phänomen einen einheitlichen Namen:

"GRID - 'Gay Related Immune Deficiency' - mit Homosexualität in Verbindung stehende Immunschwäche."

In der breiten Bevölkerung ist einfach von "Schwulenkrebs" oder "Schwulenseuche" die Rede. Das sei die ''passende Strafe'' für den ''unmoralischen Lebenswandel'' der Homosexuellen, glauben viele. Und sie meinen: Das betrifft mich nicht.

"Ich glaube, der Kreis der Befallenen ist doch noch klein, dass man noch nicht von einer Seuche sprechen kann."

"Man muss halt sehen, dass man so wenig wie möglich mit solchen Leuten zusammenkommt, wo man es eventuell vermuten könnte."

Die Suche nach dem "Patienten Null" führt denn auch zu einem amerikanischen Steward der Air Canada, der mit vielen der ersten 248 Erkrankten Sex hatte. Aber bald erkranken mehr und mehr auch Nicht-Homosexuelle, zunächst Drogennutzer, Prostituierte und Bluter. Die Krankheit taucht auch außerhalb der USA auf, in Afrika und in Europa. Im Juli 1982 meldet sich in der Abteilung für Innere Medizin der Universitätsklinik Frankfurt am Main der erste deutsche Patient.

Man geht jetzt von einer Infektion aus, die das Immunsystem angreift und durch Körperflüssigkeiten weitergegeben zu werden scheint. Damit ist potenziell jeder gefährdet. 1982 wird auf einer wissenschaftlichen Konferenz ein neuer Name geprägt: Aids

"Acquired Immune Deficiency Syndrome - Erworbene Immunschwächekrankheit."

Und Wissenschaftler suchen nun fieberhaft nach der Ursache. Vermutet wird ein Virus. Luc Montagnier vom Pasteur-Institut in Paris und der amerikanische Krebsforscher Robert Gallo finden tatsächlich je einen wahrscheinlichen Erregertyp. Gallo, mediengewandter als sein französischer Kollege, geht sehr schnell an die Öffentlichkeit.

"Das bringt uns einem grundsätzlichen Verständnis des Geschehens näher. Wir wissen nun, dass das Virus gerade die T4-Zellen angreift, die für die Immunabwehr gebraucht werden."

Und er erklärt sich - am 28. April 1984 - zum Entdecker des Aids-verursachenden Virus. Heute ist klar, dass Montagnier der erste war, aber erst nach jahrelangem, sogar vor Gericht ausgetragenem Streit.

Unabhängig davon versuchen Forscher in aller Welt, dem Ursprung des inzwischen HIV genannten Virus auf die Spur zu kommen, um einen Impfstoff zu finden - und ein Heilmittel. Die Recherchen führen schnell nach Afrika, wo schon lange vor 1981 Aids-ähnliche Krankheitsfälle aufgetreten waren. Aber dort wehrt man sich, fühlt sich diskriminiert. Luc Montagnier mahnt zur Vernunft: "Nur Fakten zählen. Wenn die zeigen, dass das Virus ursprünglich aus Afrika kommt, muss sich keiner dafür schämen. Europäer haben mindestens so viele Viren nach Afrika gebracht wie umgekehrt. Man darf nicht den Kopf in den Sand stecken. Im Gegenteil sollten afrikanische Wissenschaftler ihre Regierungen ermutigen, Studien über die Verbreitung zuzulassen."

Der Umgang mit der neuen Krankheit Aids ist auf allen Ebenen schwierig. Und es gibt immer mehr Infizierte und Tote. Panik und Hysterie greifen um sich, bis hin zu so absurden Verschwörungstheorien, die CIA oder der KGB hätten das neue Virus als mögliche Biowaffe entwickelt.

Peter Piot, Direktor des Hilfsprogramms der Vereinten Nationen gegen Aids, fasste kürzlich die Anfangszeit so zusammen:

"Die Welt hat unglaublich langsam auf diese Epidemie reagiert."

Über 40 Millionen Menschen sind heute weltweit mit HIV infiziert. Seit 1981 erlagen der Krankheit mehr als 25 Millionen. Aids ist nach wie vor unheilbar, eine Impfung nicht in Sicht. Weniger in den Industriestaaten, wo Schutzmaßnahmen recht gut funktionieren und Medikamente zur Verfügung stehen, aber für Afrika, Asien und auch Osteuropa ist Aids eine soziale, wirtschaftliche und menschliche Katastrophe.