Ständige Umwälzung

Von Christian Gampert · 28.10.2011
Interaktive Kunstwerke, die vor zehn Jahren ersonnen wurden, sind bald nicht mehr verfügbar, da ihre Hard- und Software weder repariert noch ersetzt werden kann. Das Karlsruher Zentrum für Kunst und Mediengestaltung konserviert deshalb herausragende Arbeiten.
Das kulturelle Gedächtnis ist ein seltsam Ding: Selbstredend haben wir hohe Achtung vor alten und fremden Kulturen, aber aufgrund unbegriffener irrationaler Mechanismen scheinen wir zu glauben, dass die ganz aktuelle, die eigene Kultur viel weniger wert ist als alles andere. Wir unternehmen immense Anstrengungen, um Gemälde aus dem Mittelalter zu restaurieren, machen uns aber kaum Gedanken um digitale Speicherformen, die die Gegenwart bestimmen. Interaktive Kunstwerke, die vor zehn Jahren ersonnen wurden, sind in ziemlich naher Zukunft nicht mehr verfügbar – einfach, weil die Computer-Industrie ständig Neues auf den Markt wirft und die Hard- und Software vieler Kunstwerke weder repariert noch ersetzt werden kann.

"The Legible City" zum Beispiel, ein Werk des australischen Medienkünstlers Jeffrey Shaw, ist ein Klassiker der 1990er-Jahre: Auf einem Fahrrad unternimmt der Zuschauer eine virtuelle Reise durch projizierte Stadtansichten von Amsterdam, Manhattan oder Karlsruhe. Die Gebäude dieser Städte wiederum haben die Form seltsamer dreidimensionaler Buchstaben – das Strampeln auf dem Fahrrad ermöglicht also eine Bewegung auch durch literarische Landschaften.

Der Rechner, mit dem das Kunstwerk funktioniert, wird seit 1997 nicht mehr hergestellt, die Software ist längst außer Mode. Jeffrey Shaws Werk wird aber erhalten werden – "The Legible City" gehört aufgrund seiner Berühmtheit zum Konservierungsprogramm des ZKM, aus dem man jetzt zehn restaurierte oder gangbar gemachte Werke in einer Ausstellung zeigt. Dabei, so sagt der Kurator Bernhard Serexhe, verfolgt man unterschiedliche Ansätze:

"Was wir hier im ZKM versuchen, ist eine Doppelstrategie. Erstens, alte Geräte zu erhalten, damit wir diese Werke auf den originalen Geräten präsentieren können. Dazu kaufen wir beispielsweise Geräte über Ebay, die auf dem Consumer-Markt nicht mehr vorhanden sind. Zweitens aber auch, das ist der zweite Teil dieser Strategie, die Werke umzuschreiben, sie zu "migrieren" – man spricht von Migration beispielsweise dann, wenn eine Software oder ein Kunstwerk für ein neues, aktuelles Betriebssystem umgeschrieben wird und dann auf einem neuen Rechner auf einem neuen Betriebssystem läuft."

Es geht darum, das digitale Kunstwerk möglichst authentisch zu bewahren. Ein neues Trägermedium verändert aber den Ausdruck. So wie das Straßburger Münster, wiederaufgebaut in Sichtbeton, etwas anders aussähe als in Sandstein, so sieht ein Super-8-Film in digitalen Pixeln ganz anders aus, und eine analoge LP hört sich anders an als eine CD. Das in Karlsruhe vorgeführte Werk "Augen tauschen" von Heiner Blum aus dem Jahr 1993 arbeitet mit vier Dia-Projektoren, die Wind und Geräusche machen und eine spezielle Bildqualität haben. Das alles fällt weg, wenn die Dias im Zuge der Restaurierung nun gescannt werden und über einen Videoschirm laufen. Bernhard Serexhe stellt deshalb die Gretchenfrage:

"Welches Werk wollen wir denn? Wollen wir das Ganze erhalten, so wie wir das Straßburger Münster erhalten oder die Mona Lisa erhalten? Oder gehen wir jeweils in einen neuen technischen Zustand über und verlieren damit die Authentizität dieses Werks?"

Das ist aber noch nicht alles. Denn es geht ja nicht nur um Kunstwerke, es geht ja um die Notizen, um die Lebenszeichen von uns allen. Mit jeder technischen Neuerung geht Kultur unwiederbringlich verloren: Wir kaufen alle fünf Jahre einen neuen Computer und ein neues Betriebssystem, weil das eben so ist. Buch und Ölmalerei dagegen sind haltbare Medien; man kann sie massenhaft bewahren. Bei der digitalen Kunst aber stellt sich die Frage: Was ist denn bewahrenswert? Und wer entscheidet, wer wählt aus? Das ZKM allein? Das darf doch nicht wahr sein.

Und dann: Wer finanziert das? Peter Weibel, der Direktor des ZKM, hat da schon eine Idee: Der Staat erhebt bei jedem verkauften Elektrogerät eine Steuer von einem Prozent zur Erhaltung digitaler Kunst. Das Problem ist nur: Selbst die jetzt so eifrig digitalisierten Bibliotheken werden in zehn Jahren wieder neu digitalisiert werden müssen, weil die technische Entwicklung dann noch weiter vorangeschritten ist.

So dominiert die profitsüchtige Industrie unser Leben: Ständig wird die Technologie umgewälzt, um mit neuen Geräten die alten zu übertrumpfen und mehr Gewinn zu machen. Ständig verlieren wir unsere Daten. Und unsere Kunstwerke. Peter Weibel rettet sich in die schöne Theorie, dass beim digitalen Kunstwerk nur die Idee zähle – und man das Trägermedium eben anpassen müsse. Das Bild sei sowieso ephemer, flüchtig. Bernhard Serexhe ist da pessimistischer: Er fürchtet die Herrschaft der Industrie, die den Künstler entmündigt und ihm alle paar Jahre die Produktionsmittel wegnimmt, weil Trägermedien und Kunstwerke schlicht nicht mehr funktionieren. Und aufbewahrt wird dann sowieso nur noch die Museums-Hitparade, meint Serexhe:

"Wir haben in der digitalen Kultur genau diese Tendenz, dass nur noch das, was aktuell wichtig ist, mit hohem Aufwand aufbewahrt wird, und das, was zunächst, aus heutiger Sicht, am Rande liegt, eher dem Vergessen anheim gegeben wird."

Informationen des ZKM Karlsruhe