Späte Aufarbeitung

Von Bernd Ulrich · 19.08.2005
Spätestens seit den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher von 1945/46 war bekannt, was in Auschwitz geschehen war. Aber es sollte noch fast 20 Jahre dauern, bis es der bundesdeutschen Justiz gelang, ein paar wenige der Mörder vor Gericht zu stellen. Der so genannte Auschwitzprozess - oder im Juristendeutsch: "die Strafsache gegen Mulka und andere" - begann am 20. Dezember 1963. Am 19. und 20.August 1965 wurden die Urteile verkündet.
"Wie aber sah es tatsächlich in Auschwitz aus? Über dem Lagertor waren die Worte zu lesen ´Arbeit macht frei`, unsichtbar aber stand geschrieben: ´Ihr, die ihr hier eingeht, lasst alle Hoffnung fahren`. Denn hinter diesem Tor begann eine Hölle, die für das normale menschliche Gehirn nicht auszudenken ist und die zu schildern die Worte fehlen. "

Hans Hofmeyer, Richter im Frankfurter Auschwitzprozess, kamen die Tränen, als er im weiteren Verlauf seiner mündlichen Urteilsbegründung am 19.August 1965 über die Ermordung von Kindern redete. Zu verhandeln waren wahrhaft Taten, die "zu schildern die Worte fehlen" – und die doch zur Sprache kommen mussten und nun endlich auch – überfällig genug – in der Bundesrepublik der frühen sechziger Jahre zur Sprache kamen. Es ging um die "größte Menschen-Vernichtungs-Anlage aller Zeiten", wie der einstige Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß in seinen autobiographischen Aufzeichnungen mit einer Art perversem Stolz kurz vor seiner Hinrichtung vermerkt hatte.
Fast 1,2 Millionen Menschen, in ihrer Mehrzahl Juden aus Ost-, West- und Südeuropa, wurden nach der Deportation aus ihren Heimatländern im so genannten Stammlager Auschwitz, im Sklavenlager Auschwitz-Monowitz und im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ausgebeutet, erniedrigt und schließlich ermordet. Wer nicht gleich nach seiner Ankunft, nach viehischen Transporten, auf der Rampe in Auschwitz selektiert und ins Gas geschickt wurde, wer jung und kräftig genug schien, musste vor seinem Tod noch Sklavenarbeit leisten für die deutsche Industrie. "Physisch und psychisch gebrochen", so Richter Hofmeyer,

"der Menschenwürde entkleidet, hauchten dann diese Opfer in den Gaskammern in Birkenau ihr jämmerliches Leben aus – Juden und Christen, Polen und Deutsche, russische Kriegsgefangene und Zigeuner, Menschen aus ganz Europa, die auch von einer Mutter geboren waren und Menschenantlitz trugen. Das war das so genannte Erziehungslager Auschwitz. "

Im Auschwitzprozess standen von den fast 8000 SS-Angehörigen, die im Laufe der Jahre ihren Mörderdienst in Auschwitz verrichtet hatten, ganze 22 Männer vor Gericht, als der Prozess am 20.Dezember 1963 begann. Sie waren angeklagt wegen Mord oder Beihilfe zum Mord im Konzentrationslager Auschwitz an einer, wie es in der Anklageschrift hieß, "unbestimmten Vielzahl von Häftlingen".

Mehr als 20 Jahre nach den Taten, nach den Aussagen von 359 Zeugen aus 19 Ländern, dem Verlesen mehrerer Gutachten über das Lagersystem und die Terrorherrschaft der SS, nach einem Ortstermin in Auschwitz und der Befragung der Angeklagten, wurden die Urteile gesprochen. Drei wurden mangels Beweisen freigesprochen, sechs Täter bekamen lebenslänglich, elf kamen mit Haftstrafen zwischen dreieinhalb und 14 Jahren davon. Milde Urteile in den Augen vieler Beobachter, zu milde angesichts der unmenschlichen Verbrechen, die den Verurteilten nachgewiesen werden konnten.

Es waren ganz gewöhnliche Bürger, Handwerker, Angestellte, Ärzte, die vor Gericht standen. Aber es fehlte ihnen jegliches Unrechtsbewusstsein, von einer Anerkennung ihrer Schuld ganz zu schweigen. Fast alle beriefen sich mit Unterstützung ihrer Anwälte auf den Befehlsnotstand und einige sahen sich gar selbst als Opfer eines Terrorregimes. In manchen von ihnen ging zusammen, was schon damals so rätselhaft wie beunruhigend war: Eine "kultivierte Erscheinung" und skrupellose Täterschaft. Der SS-Sturmbannführer und Lagerapotheker Dr. Victor Capesius etwa hatte bedenkenlos Freunde und Bekannte aus seiner Jugend in Rumänien ins Gas geschickt. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung betrieb er eine Apotheke in Göppingen und einen umsatzstarken Kosmetiksalon in Reutlingen. Uneinsichtig auch er, trotz einer überwältigenden Fülle von Zeugenaussagen und Dokumenten, die seine Schuld belegten:

"In Auschwitz habe ich keinem Menschen etwas zuleide getan. Ich war zu allen höflich, freundlich und hilfsbereit, wo ich dies nur tun konnte. Auf der Rampe war ich verschiedene Male, um dort das Ärztegepäck für die Häftlingsapotheken zu holen. Selektiert habe ich nie, was ich mit allem Nachdruck betonen möchte. Ich bin nicht schuldig geworden in Auschwitz, ich bitte Sie, mich freizusprechen. "

Rechtsanwalt Henry Ormond, Vertreter der Nebenkläger, hatte schon Recht:

"Weder Elternhaus noch Erziehung, weder Berufsausbildung noch Bildung, weder Religion noch familiäre Bindung haben auch nur den geringsten Einfluss auf das verbrecherische Tun der Angeklagten gehabt. Diese Faktoren waren kein Hindernis auf dem Weg zum Mord. "

Womöglich ist es dieser Befund, der zu den verstörendsten Folgen des Auschwitz-Prozesses gehört – bis heute.