Soziale Raubtiere

Rezensiert von Susanne Nessler · 06.10.2005
Sie sind skrupellos und ohne jedes Mitgefühl. Ihre Persönlichkeit zeichnet sich durch egozentrisches, selbstherrliches Verhalten aus. Sie betrügen, demütigen, verletzen und töten. Ohne Emotionen, aber mit vollem Bewusstsein. Psychopathen. Soziale Raubtiere, von denen nicht wenige in unserer Gesellschaft leben. Das schreibt Robert D. Hare, kanadischer Psychologe und Psychopathen-Experte in seinem Buch "Gewissenlos, die Psychopathen unter uns".
Nach nur zwei Seiten Lektüre des Buches ist sich der Leser sicher, mindestens einen Psychopathen persönlich zu kennen. Hoffentlich nicht zu gut, denn das Sachbuch liefert eine beängstigend aufschlussreiche Analyse über das Phänomen Psychopathie.

Die Hannibal Lectors, Dr. Jekylls und Mister Hydes sowie die Natural Born Killers sind unter uns. Und zwar nicht als einsame skurrile Wesen, wie wir sie aus der Literatur oder dem Kino kennen, sondern als scheinbar ganz normale Menschen, denen wir gelegentlich begegnen. Mindestens ein Prozent der Menschen sind Psychopathen, schreibt der Autor. Sie sind keine Ausnahmeerschienung, allein in New York leben 100.000 von ihnen.

Offizielle Studien gibt es für diese Annahme nicht. Die Zahlen sind Schätzungen des Autors, der zu den weltweit renommiertesten Experten auf Gebiet der Psychopathen-Forschung gehört. Robert D. Hare ist Psychologe und beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit dem Phänomen.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema begann zunächst zufällig, erklärt er im zweiten Kapitel von "Gewissenlos". Und zwar als er nach dem Studium in den 50er Jahren seine erste Stelle als Gefängnispsychologe antrat. Er kannte Psychopathen damals nur aus der Fachliteratur. In seinem ersten Berufsjahr wurde er selbst zum Werkzeug eines Psychopathen. Ein Gewalttäter, der ihn als Gefängnispsychologen dazu brachte, die frühzeitige Entlassung aus der Haft zu unterschreiben. Die Folge waren weitere Verbrechen. Diesem Schlüsselerlebnis folgte jahrelange Forschung über das Wesen von Psychopathen. Und die Erkenntnis, dass nur ein sehr kleiner Teil von ihnen hinter Gittern landet.

Das wissenschaftliche Ergebnis ist eine Psychopathen-Checkliste, mit der sich unglaublich kaltblütigen Menschen identifizieren lassen sollen.
Sie dient aber nicht der Selbstdiagnose, schreibt Robert D. Hare, und ist deshalb sehr allgemein gehalten:
Verantwortungslos, heuchlerisch und impulsiv verhalten sich Psychopathen, heißt es. Sie sind meist gute und sehr charmante Redner, besitzen eine ausgeprägte Körpersprache und einen durchdringenden Blick. Letztlich also nur einige sehr dünne Anhaltspunkte, die auch auf viele Nicht-Psychopathen zutreffen.

Interessant und durchaus unterhaltsam, wenn man Kriminalgeschichten mit psychologischem Hintergrund mag, sind dafür die zahlreichen Beispiele aus dem Alltag und dem Knast. Das Geschichtenerzählen liegt englischsprachigen Wissenschaftlern sehr.
Das Buch quillt über an Ganovenstories und leidvollen Opfergeschichten. Echte Schauermärchen mit guten, allgemeinverständlichen wissenschaftlichen Erläuterungen.

Nur das Bild vom serienmordenden satanistischen Psychopathen ist falsch, erfährt der Leser. Psychopathen haben kein gesteigertes Interesse an besonders qualvollen Handlungen, wie z.B. im Film "Schweigen der Lämmer" dargestellt. Ihnen geht es lediglich um die schnelle Durchsetzung ihrer eigenen Bedürfnisse. Betrug, Urkundenfälschung und Diebstahl sind deshalb Delikte, die sie viel häufiger begehen.

Und mit einen zweiten Mythos räumt Autor auch gleich auf. Psychopathen sind zwar Wölfe im Schafspelz, geschickt und anpassungsfähig, besonders intelligent sind sie aber nicht. Ihr IQ liegt nicht über dem Durchschnitt.

Psychopathen, können Nachbarn sein, der Chef oder ein Kollege, der neue Bekannte oder der Versicherungsvertreter. Sie lügen und betrügen aus rein egoistischer Motivation und ohne Rücksicht auf Verluste.

Sie empfinden keine Reue, denn Psychopathen haben eine angeborene genetische Unterfunktion für emotionales Handeln, erklärt der Autor. Messungen der Hirnaktivität belegen diese Annahme. In Tests zeigen psychopathische Personen im rechten Hirnareal keinerlei Reaktion. Dieser Abschnitt ist für Gefühle und Emotionen zuständig.

Sind Psychopathen also geisteskrank? Das würde bedeuten, sie sind nicht verantwortlich für ihr Handeln. Richter und Psychologen sind sich einig: Psychopathen sind nicht verrückt, sie wissen sehr genau, was sie tun. Ihnen sind Gesetze und gesellschaftliche Regeln durchaus bekannt, sie kümmern sich nur nicht darum.

Im letzten Kapitel empfiehlt Robert D. Hare Opfern skrupelloser Mitmenschen deshalb, sich nicht in Psychopathen hinein zu versetzen. Um sich ihrem Handeln zu entziehen sollte man nicht versuchen, sie zu verstehen, sondern sich klar von ihnen distanzieren. Denn selbst Psychologen sind nicht in der Lage, diese Menschen zu ändern.

Psychopathen sind nicht therapierbar, sie sind und bleiben Täter. Emotionslos und berechnend!

Dr. Robert D. Hare: Gewissenlos. Die Psychopathen unter uns
Übersetzt von Karsten Petersen
Springer-Verlag Wien, 2005.
250 Seiten. 29,95 Euro