Simon Garfield: "Zeitfieber"

In den Fängen der Zeit-Krake

Szene aus dem Stummfilm "Ausgerechnet Wolkenkratzer"
"Ikone der Moderne": Darsteller Harold Lloyd in dem amerikanischen Stummfilm "Ausgerechnet Wolkenkratzer" von 1923. © imago/United Archives
Von Frank Kaspar · 28.03.2017
Zeit ist knapp, und sie wird knapper, je genauer man sie messen kann. Der britische Journalist Simon Garfield beschreibt in seinem Buch "Zeitfieber", wie Kalender und Uhren, Fahrpläne, Fließbänder und Effizienz-Regeln uns seit 250 Jahren immer mehr den Takt vorgeben.
Ein Mann hängt zwischen Himmel und Erde, am Zeiger einer Turmuhr. Mit diesem Bild aus dem Film "Ausgerechnet Wolkenkratzer" schuf der Schauspieler Harold Lloyd eine Ikone der Moderne. 1923 war das. Knapp 100 Jahre früher beklagte schon Goethe, dass junge Leute "im Zeitstrudel fortgerissen" würden. Simon Garfield dreht die Uhr noch weiter zurück, um deutlich zu machen, wie sehr der Wunsch, die Zeit zu kontrollieren, die moderne Welt geprägt hat.

So sollte nach der Französischen Revolution buchstäblich eine neue Zeit anbrechen. Uhren, die den 24-Stunden-Tag in nur zehn Stunden einteilten, wurden zwar bald wieder abgeschafft. Aber ein Kalender, der pro Monat drei Wochen zu je zehn Tagen vorsah, galt in Frankreich gut zwölf Jahre lang, von 1793 bis 1806.

Als Reporter durch die Zeit-Geschichte

Zeit ist Macht, das zeigte im 19. Jahrhundert die Eisenbahn, die einheitliche Zeitzonen mit sich brachte. Manche britische Städte trotzten der Zentralgewalt und hängten Uhren mit zwei Minutenzeigern auf: Einer folgte dem Diktat aus London, der andere der Lokalzeit nach dem Sonnenstand. Aus den USA berichtet Garfield von Marathon-Reden, so genannten "Filibustern": Bis zu 24 Stunden lang redeten manche Senatoren ihre Gegner in Grund und Boden, um Gesetze aufzuhalten und ihre Entschlossenheit zu demonstrieren.
All das schildert der britische Journalist nicht als Kulturgeschichte, sondern zupackend und konkret im Stil einer Reportage. Garfield konzentriert sich auf Schlüsselmomente und -figuren der Zeitmessung. Er besucht Uhrmacher, Musiker, Sportler und Zeitmanagement-Gurus. Immer wieder erfährt er den Einfluss der Zeit am eigenen Leib: Nach einem Sturz vom Fahrrad dehnt sich seine Zeitwahrnehmung. Ein anderes Mal fällt sein Flug aus, weil eine Schaltsekunde die Computer lahm legt.
Im Original heißt Garfields Buch "Timekeepers", was die Zeitnehmer beim Sport meint aber auch "Hüter" der Arbeitszeit wie jene englischen Fabrikbesitzer im frühen 19. Jahrhundert, die gegen Abend die Uhren zurückstellten, um ihre Arbeiter länger an der Werkbank oder am Webstuhl zu halten. "Die Zeit, einst etwas Passives, ist inzwischen aggressiv", schreibt Garfield. Heute hat sie uns auch dank Smartphone-Apps im Griff, die "Tiny Timer" oder "Tasktopus", also: Aufgaben-Krake, heißen.

Tipps für das eigene Zeitmanagement

Simon Garfield versteht es, geistreich zu unterhalten. Der Übersetzer Jörg Fündling nimmt diesen Ton treffsicher auf und trägt in zahlreichen Fußnoten Hinweise nach, mit denen es der Autor nicht so genau nahm – angefangen mit Heinrich Bölls Anekdote über einen Angler, der mit sich und der Zeit im Reinen ist. Zum Auftakt des Buchs erzählt Garfield diese Geschichte ungeniert, als hätte er sie selbst erlebt.

Dabei hätte er diese Art von Mundraub gar nicht nötig. Simon Garfields Streifzug durch die beschleunigte Moderne gibt viele lohnende Denkanstöße für den eigenen Umgang mit der Zeit. Mit Humor und Selbstironie plädiert er dafür, gelassener aber nicht zeitvergessen zu leben.

Simon Garfield: "Zeitfieber. Warum die Stunde nicht überall gleich schlägt, die innere Uhr täuschen kann und Beethoven aus dem Takt gerät"
Aus dem Englischen von Jörg Fündling
Theiss Verlag, Darmstadt 2017
375 Seiten, 24,95 Euro

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