Sightseeing jenseits der Sehenswürdigkeiten

Von Marcus Weber · 03.01.2007
Berühmte Städte haben ihre Sehenswürdigkeiten, doch klar ist auch, dass sie nicht nur daraus bestehen. Für Touristen, die etwas mehr vom wirklichen Leben der Einheimischen kennen lernen wollen, hat der Franzose Joël Henry das "experimentelle Reisen" entwickelt. Dabei ist zwar der Weg meist klar definiert, nicht aber das Ziel.
Joël Henry: "Now we have to walk a bit in an area with few touristic interests. But I like it."

Ein Gebiet von wenig touristischem Interesse - so lässt es sich auch sagen. Der Fußweg schmal, die Straße breit. Ein Auto am anderen. Lärm und Gestank. Ein öder Straßburger Vorort. Aber so ist das eben: links, rechts, links, rechts - das ist die Vorschrift. Und so zündet sich Joël Henry seine Pfeife an und läuft weiter.

"Wenn man am Eiffelturm steht, ist es nicht kompliziert - dann hat man vor sich, was man sehen soll. In einem Industriegebiet hingegen, wo es keinen Eiffelturm gibt, muss man seine Aufmerksamkeit auf kleinere, verstecktere Dinge lenken und vielleicht eine neue Sichtweise auf die Dinge finden."

Joël Henry, mit kurzen Haaren, breitem Schnauzbart und strahlend blauen Augen, ist experimentell Reisender - das heißt, er reist nicht einfach so, sondern nach bestimmten Regeln. Zum Beispiel erkundet er eine Stadt, in dem er die erste Straße mit "A" und die letzte Straße mit "Z" auf dem Stadtplan verbindet und diese Route abschreitet. Oder er geht einfach abwechselnd links und rechts.

"Für mich ist es wirklich charakteristisch für den Experimentellen Tourismus, dass man beides macht: Reisen und Spielen. Und man weiß eigentlich nie genau, ob man gerade auf Reisen ist oder ein Spiel spielt. Die Grenze dazwischen ist verschwindend klein."

Experimenteller Tourismus, erklärt Henry, ist weder besser noch schlechter als der klassische Weg des Reisens. Was er bietet, ist eine andere Freiheit, die durch das Spiel entsteht. Dabei ist es natürlich jederzeit erlaubt zu tricksen und die selbst gesetzten Regeln kurzfristig zu ändern.

1990 gründete Henry mit einigen Freunden Latourex - offiziell eine "wissenschaftliche Organisation" zur Erforschung des experimentellen Reisens.

"Latourex ist etwas sehr besonderes. Es gibt keine Mitglieder, es hat keine juristische Existenz. Es ist kein eingetragener Verein. Wir haben keinen Treffpunkt, kein Programm. Es ist eine Art Fiktion."

Und dennoch organisiert Latourex - oder besser gesagt Joël Henry - immer wieder experimentelle Gruppenreisen. Die bisher größte zählte 500 Teilnehmer. Es war eine politische Demonstration gegen eine rechtsgerichtete französische Partei, die einen Kongress in Straßburg veranstaltete.

"Wir bezogen uns auf ein altes, sehr wichtiges Ereignis in der Geschichte Straßburgs während des Krieges. 1939 wurde die ganze Stadt innerhalb von drei Tagen nach Südfrankreich evakuiert. Und so beschlossen wir mit Latourex das gleiche zu tun - aber wir gingen nach Deutschland. Wir machten es umgekehrt: Wir luden Leute ein, das Wochenende im deutschen Kehl zu verbringen."

Freilich, das ist alles nur Hobby. Doch auch sein Berufsleben bezeichnet der 51-Jährige als "ziemlich touristisch". Das Fotografie-Studium brach Joel Henry ab, war Sozialarbeiter, organisierte Ausstellungen, entwarf Brettspiele und verkaufte Bücher. Zurzeit arbeitet er als Texter fürs Fernsehen und ist selbst unter die Publizisten gegangen: Er veröffentlichte den "Lonely Planet Guide" fürs Experimentelle Reisen. - Doch angefangen hatte alles mit einem Reisespiel, das Henry als Kind spielen musste: Backpacking home.

" Einmal beschloss meine Mutter in den Ferien, dass wir für einen Tag Tourist in Straßburg spielen sollten. Ich fand die Idee absolut blöd, weil ich lieber mit meinen Freunden ins Schwimmbad wollte. Wir unternahmen all die Sachen, die Touristen in Straßburg normalerweise machen und die wir nie zuvor gemacht hatten. Ich weiß gar nicht mehr, ob es mir doch gefallen hat. Vielleicht war es nicht so schlecht."

Seine Leidenschaft fürs Reisen teilt der dreifache Vater Henry mit seiner Frau Maja, die er schon aus Kindertagen kennt. Eines ihrer Lieblings-Experimente ist natürlich der Liebes-Tourismus. Die beiden fahren getrennt in eine Stadt und versuchen sich dort ohne Hilfsmittel zu finden. Sechs Mal hat das bis jetzt funktioniert: Zuletzt in Venedig, das erste Mal in Heidelberg.

"Die ersten Stunden dachte ich, es wäre unmöglich, sich zu treffen. Und nach einer Weile begann ich, mich auf Plätze zu fokussieren, von denen ich wusste, dass Maja sie mag, und wo ich eine Chance hatte, sie zu finden. Aber dann dachte ich, wenn sie jetzt genau dasselbe versucht, kann es eine Weile dauern. Idealerweise also findet man in solchen Fällen die Plätze, die zu unseren beiden Universen passen."

Bei einer anderen Tour verband sich Henry die Augen und ließ sich völlig blind von Maja durch Luxemburg führen. Und vor ein paar Jahren beschilderten die beiden den Weg von Henrys Heimatstadt Straßburg "vers la mer" - genauer gesagt Richtung Mittelmeer, von Straßburg aus immerhin 900 Kilometer.

Links, rechts, links, rechts - als Henry an diesem Nachmittag plötzlich am Ufer des Rheins steht, blinzelt er verschmitzt in die Ferne. Ihm fällt da ein Experiment ein: der Retour-Tourismus. Vor einiger Zeit ist er mit Maja zur Rheinquelle gefahren ...

"Es ist eigentlich üblich, zu reisen - und gleichzeitig ist es doch sehr seltsam, aus Vergnügen irgendwohin zu fahren - warum? Was suchen wir dort? Ich kann diese Frage nicht beantworten. Ich glaube, ich liebe das Reisen, weil es genau diese Frage gibt. Sie ist Teil des Vergnügens, es ist irgendwie etwas Geheimnisvolles."

Service:
Wer selbst experimentell reisen will, kann sich von Joël Henrys Experimenten in dem Reiseführer "The Lonely Planet Guide to Experimental Travel" inspirieren lassen. Das Buch kostet ca. 15 Euro und ist bei Lonely Planet erschienen. Es ist bis jetzt allerdings nur in Englisch erhältlich.
Hinweise bietet auch die Internetseite Latourex.