"Sich Hineindenken in ostasiatische Welten"

Moderation: Klaus Pokatzky · 04.10.2012
Vor einem Jahr wurde die jüngste Künstlerresidenz des Goethe-Instituts eingeweiht, die Villa Kamogawa im japanischen Kyoto. Das Ziel der Einrichtung ist eine stärkere Wahrnehmung Ostasiens in der deutschen Kunst, erklärt Residenzleiter Marcus Hernig - und zieht eine erste Bilanz.
Klaus Pokatzky: Ein reiches, mächtiges Land, das auf sich hält, schickt seine Künstler ins Ausland und lässt sie dort auf Staatskosten eine bestimmte Zeit leben und arbeiten und Neues lernen. Das hat als erster das Frankreich von Ludwig XIV. gemacht. 1666 schickte er die ersten französischen Maler, Radierer und Bildhauer nach Rom, auf dass sie anschließend wieder daheim den pompösen Sonnenkönig in ihren Kunstwerken noch pompöser verherrlichen konnten.

Auch Demokratien schicken ihre Künstler ins Ausland, wie es das Goethe-Institut nun seit einem Jahr mit seiner jüngsten Künstlerresidenz, der Villa Kamogawa im japanischen Kyoto tut. Deren Leiter ist Marcus Hernig, und den begrüße ich nun am Telefon. Guten Tag!

Marcus Hernig: Guten Tag, Herr Pokatzky!

Pokatzky: Herr Hernig, ich vermute mal, dass heute unsere Künstler anschließend nicht unseren Bundespräsidenten und unsere Kanzlerin in ihren Werken verherrlichen müssen. Also warum leisten wir uns jedes Jahr Stipendien für zwölf Künstler, Literaten, Komponisten ausgerechnet in Kyoto?

Hernig: Ja, also verherrlichen müssen sie natürlich niemand, das sollen sie ja auch nicht. Aber warum leisten wir uns diese Künstler? Das ist, glaube ich, eine ganz gute, aber auch eine sehr gut zu beantwortende Frage. Wir haben bis jetzt noch viel zu wenig Wahrnehmung Ostasiens beziehungsweise ostasiatischer Inhalte in der deutschen Kunst. Und das ist schon mal ein erster Grund, warum es wichtig scheint, dass deutsche Künstler hier nach Kyoto kommen, oder überhaupt nach Ostasien, nach Japan kommen, um einfach stärker in ihren Werken diesen noch immer zu weit entfernten Teil der Welt wahrzunehmen. Das ist, denke ich, ein ganz wichtiger Punkt, also dieses Hineinhören, Hineinfühlen, sich Hineindenken in ostasiatische Welten, in japanische Welten, und dieses Rücktransportieren dieser Inhalte in die verschiedenen Kunstbereiche.

Das ist besonders im Bereich der bildenden Kunst sehr interessant, das ist im Bereich der Literatur interessant, die in Deutschland immer noch einen, finde ich, sehr geschlossenen und sehr auf Deutschland fixierten Inhalt hat, es ist in der Musik auch weiterhin relevant, obwohl da schon durchaus ein Austausch besteht, aber auch da ist sicherlich noch mehr zu tun. Und es wird ja auch gerade die Musik, die wird gerade hier in Japan aus Deutschland wiederum sehr stark nachgefragt.

Also das ist auch gleich der zweite Teil schon der Antwort, dass umgekehrt eben auch ein sehr starkes Interesse an Kunst und Kultur aus Deutschland hier in Japan besteht, und das wollen wir eben natürlich über die Musik hinaus, über die moderne Musik, über die elektronische Musik hinaus, die schon sehr nachgefragt wird, auch in anderen Bereichen befördern.

Pokatzky: also wenn wir das mal an der Literatur einen Moment klarmachen können: Da sind also einerseits unsere Literaten, die dann zu Ihnen kommen und dann drei Monate sich bei Ihnen aufhalten, Botschafter der deutschen Literatur in Japan. Eben haben Sie aber auch gesagt, die sollen heraus aus ihrem deutschen geschlossenen Kreislauf. Das heißt, wir sind zu provinziell in unserer Literatur, und die sollen dann von Japan was lernen, und das dann wieder hierher zurückbringen, polyglott, weltläufig?

Hernig: Ich finde, dass wir in der deutschen Gegenwartssituation noch immer eine recht starke Fixierung auf Inlandsthemen haben. Das heißt, wir sind sehr auf Deutschland fixiert, wir sind eine ganze Zeit lang zum Beispiel auf den deutschen Osten fixiert gewesen, auf die Wiedervereinigungsthematik. Gewissermaßen gibt es noch eine relativ gute Reflexion europäischer Inhalte, aber wenn man mal genauer hinschaut – schließlich liegt ein gewisser Fokus ja auch unseres 21. Jahrhunderts in Ostasien, in Japan, in China, in Korea – da ist es noch relativ wenig.

Und ich denke, das ist ein ganz wichtiger Faktor, den wir hier leisten können, das heißt also, junge Künstler haben die Möglichkeit, Schriftsteller haben die Möglichkeit, hier sich drei Monate lang wirklich auf ein japanisches oder sogar auch ein ostasiatisches Sujet zu konzentrieren und das eben zum Thema ihres Romans oder ihres neuen Buches zu machen. Das halte ich schon für sehr wichtig.

Pokatzky: Nun sind Literaten ja im besonderen Maße von der Sprache abhängig. Drei Monate in Japan – können die da mehr Japanisch dann am Ende als guten Tag, auf Wiedersehen, bitte, danke?

Hernig: Das werden sie nur in Einzelfällen schaffen – also wir versuchen natürlich schon ein wenig, auch die japanische Sprache und Kultur hier zu vermitteln und nahezubringen. Wir haben auch Japanisch-Kurse hier, also kleine Einführungskurse, die wir beginnen, allerdings wirklich parlieren in der Sprache, das wäre eine Wunschvorstellung, da braucht man doch schon ein bisschen sprachliches Genie, wenn man in drei Monaten so weit kommen will.

Nein, ich denke, wichtig ist eine sehr gute Projektvorbereitung, auch ein hineinlesen in die Thematik, ein Auseinandersetzen auch mit dem Ort Kyoto hier, der ja nun – und deswegen auch Kyoto, um mal auf den Anfang unseres Gespräches zurückzukommen –, ist ja nun ein Ort, der unglaublich viel an Kulturerbe bietet. Das ist die japanischste aller japanischen Städte, sie hat mittlerweile eine der längsten Geschichten in diesem Land, ...

Pokatzky: Die alte Kaiserstadt.

Hernig: Alte Kaiserstadt, ganz genau, sie verweist auf ein gemeinsames ostasiatisches Kulturerbe aus der Tang-Dynastie in China. Auch das macht diese Stadt auf besondere Weise einzigartig, nicht zuletzt auch in den gerade aktuellen chinesisch-japanischen Debatten, die wir haben. Also ich glaube, hier gibt es viel zu holen und viel zu erkennen und viel wahrzunehmen, wenn man sich wirklich auf diesen Ort Kyoto intensiv einlässt, und das tun unsere Künstler.

Pokatzky: Was gibt es jetzt genau da zu holen? Was können deutsche Künstler, Komponisten, Literaten vielleicht auch von ihren japanischen Kollegen lernen, abgesehen von diesem Aspekt der Weltläufigkeit? Ich war jetzt einmal in einer Region, die nicht so auf der Reiseroute liegt wie meinetwegen Los Angeles mit der Villa Aurora oder Rom mit der Villa Massimo.

Hernig: Also nehmen wir nur mal ein Beispiel, nehmen wir die klassische Literatur, um bei dem Bild der Literatur zu bleiben, nehmen wir zum Beispiel Bashō, einen der ganz bekannten Haiku-Künstler, oder auch Taneda Santōka, das sind also ganz wichtige Leute hier, Haiku-Dichter. Haiku-Dichtung ist in Deutschland mittlerweile auch sehr beliebt, es gibt viel Haiku-Dichtung auch im Deutschen schon. Das heißt also, das wäre nur so ein Beispiel zu zeigen, aha, hier sind auch Sujets, hier sind Figuren mit einer ganz bestimmten Art Sprache auszudrücken. Und das wiederum integriere ich in mein neues Werk, zum Beispiel meinen neuen Roman, zum Beispiel in meinen neuen Gedichtband oder was auch immer, lasse mich dazu inspirieren, das ist sicherlich ein ganz starker und sehr konkreter Anlass.

Dann kommen natürlich auch diese ganz typischen, sagen wir mal, Umfeldbilder, die wir hier haben. Wir haben die Stadt der Gärten, das ist die Stadt der Tempel, das ist die Stadt traditioneller Architektur und Kultur in Japan – also man kann sich auch im visuellen Bereich natürlich unglaublich viele Eindrücke holen. Und nicht zuletzt die Musik, die natürlich mit ganz speziellen Klängen, die in den Tempeln typisch sind, also Klänge, die vom Wasser ausgehen, Klänge, die von Holz geprägt sind, die von diesen Schiebetür-Dingen geprägt sind, da kann man sich neue Klangwelten erschließen. Also es ist für Musiker auch eine ganz spannende Geschichte.

Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur Marcus Hernig, der Leiter der Villa Kamogawa des Goethe-Instituts in Kyoto, die übrigens so heißt, weil sie am Fluss Kamogawa liegt. Herr Hernig, die Musik – Sie haben beschrieben, was deutsche Komponisten, deutsche Musiker nach Deutschland mitnehmen können aus Japan. Was bringen die denn am Bild der deutschen Musik nach Japan, oder erst mal anders gefragt: Welches Musikbild hat der Japaner, der gebildete Japaner? Ist es immer noch Beethoven, vor allem, und dann vielleicht Bach?

Hernig: Wenn man in die breite Masse schaut, würde ich sagen ja. Es ist immer noch ein sehr klassisch geprägtes Bild, was in Japan vorherrscht, es ist immer noch Bach, es ist Beethoven, es ist Brahms, es sind die Romantiker natürlich. Also das sind Dinge, die hier noch sehr stark im Vordergrund stehen, und diese Konzerte werden auch extrem nachgefragt. Es ist also hoch spannend, wenn Sie zum Beispiel erleben ein Konzert des Bach-Archivs aus Leipzig, die dann hier ein Konzert veranstalten in einer Musikhalle, und sie kriegen ein Bach-Orgelkonzert mit über 1000 Zuschauern voll. Ich glaube, das ist etwas, was man in Deutschland nicht unbedingt erreichen kann, in Japan ist das möglich, weil man doch sehr stark eben auf diese traditionelle deutsche Musik sehr fixiert ist und große Fans und eine große Anhängerschaft hat. Wir haben zum Beispiel eine Telemann-Gesellschaft in Japan – das sind alles so Phänomene, die das sehr deutlich zeigen.

Aber das ist eine Seite, Japan ist ja ein interessantes Land, das ist ja ein Land, was sehr starke Traditionen hat und was sehr stark aber auch mit der Moderne verbunden ist. Und das spiegelt sich interessanterweise genau in der Wahrnehmung auch der deutschen Kultur wieder. Wir haben einerseits diese Wahrnehmung der deutschen Vergangenheit, also der Klassiker, der Romantiker, was ich gerade geschildert habe, und andererseits aber auch der Ultramoderne in Form von Techno, in Form von elektronischer Avantgarde-Musik.

Und das ist etwas, was in Japan eben derzeit auch sehr stark im Fokus steht – also ich nenne mal nur Namen wie Raster-Noton, also mit Carsten Nikolai das Label, der ist in Japan unglaublich bekannt und beliebt und hat seine Fans, oder es gibt auch entsprechende japanische Noise-Komponisten oder Elektronik-Komponisten, die wiederum unter dem Label dann in Deutschland veröffentlichen. Also die Verbindung ist ganz, ganz eng, wir haben das erlebt: Ich habe zwei elektronische Musiker hier gehabt, Andi Otto und zuletzt Stefan Goldmann, die beide hier ihre Fangemeinde haben, vor allen Dingen Stefan Goldmann aus der Berliner Szene, der also hier wirklich seine Gemeinde noch fast stärker hat als in Berlin selber.

Pokatzky: Aber reichen dafür denn diese drei Monate wirklich aus? Wäre da nicht noch ein halbes Jahr oder so sehr viel sinnvoller?

Hernig: Wir haben die Erfahrung gemacht, diese drei Monate funktionieren eigentlich ganz gut, wenn die Leute oder wenn die Künstler ein doch gut umrissenes Projekt mitbringen, daran arbeiten, sich darauf konzentrieren und diese Dinge, die sie dann dort also wahrnehmen, zunächst mal mitbringen, um nach Hause zu gehen und dann zu bearbeiten. Viele kommen allerdings wieder, oder viele sagen dann auch, so, diese drei Monate sind für mich der Anstoß gewesen, da kriege ich natürlich nicht mein Projekt fertig, das wäre wirklich Illusion. Nein, viele nutzen diese drei Monate, um sozusagen ihre ersten Recherchen hier zu machen, sich dem Projekt anzunähern, dem Land anzunähern, Teile umzusetzen, gehen zurück, arbeiten daran weiter, und kommen dann auch vereinzelt wiederum zurück.

Pokatzky: Herr Hernig, was nehmen denn die Japaner nun genau von den deutschen Stipendiaten mit?

Hernig: Sie nehmen mit, dass Deutschland eben mehr ist als das klassische Bild, das man im Kopf hat, also das klassische Bild von Brahms und Beethoven und deutscher Folklore, deutscher Klassik, was sich immer noch sehr in den Köpfen hält. Sie nehmen mit, dass es eine lebendige deutsche Kunstszene gibt in den unterschiedlichsten Bereichen, im Bereich Musik, im Bereich Film, im Bereich bildende Kunst, Fotografie, Literatur, und vor allen Dingen, was man konkreter dabei noch mehr mitnimmt als diesen allgemeinen Eindruck, das es das gibt, denke ich, das sind die persönlichen Kontakte, die man auf einmal hier knüpfen kann.

Und wir haben in Kyoto und in Osaka ja auch durchaus eine lebendige Szene von Künstlern, wir haben durchaus auch eine sehr an Kunst interessierte Öffentlichkeit, und die haben auf einmal hier deutsche Künstler live zum Anfassen, wenn sie dann hier in die Veranstaltungen kommen, zum Beispiel in diese Veranstaltung, die wir jetzt am 29.9. hatten, Start frei Kamogawa, wo sich die einzelnen Stipendiaten dann vorstellen konnten. Da nimmt man doch sehr viele ganz konkrete Gespräche mit den deutschen Künstlern mit, und vielleicht sogar ist das der Beginn des einen oder anderen gemeinsamen Projekts oder der einen oder anderen gemeinsamen Zusammenarbeit. Denn wir haben es auch schon gehabt bei früheren Gruppen, man reiste dann sogar nach Berlin, man traf dann Leute wieder, die man hier in der Villa kennengelernt hatte.

Pokatzky: Danke, Marcus Hernig, Leiter der Villa Kamogawa in Kyoto!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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