Serbien

Missbraucht, gefälscht, verschwiegen

Ein Museum in Sarajevo erinnert an das Attentat vom 28. Juni 1914, das zum Ersten Weltkrieg führte: Der Mörder Gavrilo Princip (links) und sein Opfer, der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand.
Ein Museum in Sarajevo erinnert an das Attentat vom 28. Juni 1914, das zum Ersten Weltkrieg führte: Der Mörder Gavrilo Princip (links) und sein Opfer, der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand. © dpa / picture alliance / EPA / Fehiim Demir
Von Jutta Schwengsbier · 23.11.2014
Der Umgang ihres Heimatlandes mit der eigenen Geschichte lässt zu wünschen übrig, findet die serbische Historikerin Dubrovka Stojanovic. Sie fordert eine neue Erinnerungskultur und ist damit nicht allein.
Ist Gavrilo Princip ein Held? Oder war er ein Terrorist? Die Debatte um den Attentäter von Sarajevo, der den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand ermordete, gerät auf dem Balkan erneut zur Propagandaschlacht. Dubrovka Stojanovic, Professorin an der Universität Belgrad, gehört zu einer neuen Generation von Historikerinnen, die deshalb eine andere Erinnerungskultur einfordern:
"Während des Gedenkens an das Attentat von Sarajevo gab es zwei getrennte Veranstaltungen in Bosnien. In Sarajevo fand die Gemeinschaftsfeier statt, aber ohne serbische Politiker. Die andere Feier war in diesem sehr seltsamen Ort mit dem Namen Andricgrad in der Republica Srpska, wohin alle serbischen Politiker aus Bosnien und Serbien kamen und tatsächlich Gavrilo Princip als Held feierten.“

Bislang würde die Erinnerungskultur in vielen Teilen Osteuropas eher Konflikte schüren. Von einer gemeinsamen Aufarbeitung der Geschichte, so Stojanovic, sei man weit entfernt. Schlimmer noch: Geschichte werde noch immer missbraucht, gefälscht oder einfach ganz verschwiegen.
Vergessene Erinnerung
Am besten lässt sich das in Staro Sajmiste beobachten, einem Stadtteil mitten in Belgrad. Auf den ersten Blick wirkt Staro Sajmiste wie eine grüne Oase der Ruhe. Mit einigen verstreuten Cafés, mit Bars und Restaurants in baufälligen Gebäuden, eingerahmt von Bäumen und einer ungepflegten Parkanlage. Der Einzige, der daran erinnert, was hier im Zweiten Weltkrieg passierte, ist ein Holländer. Ralph Van Derseiden zeigt Touristen bei einer Fahrradtour die historischen, aber weitgehend unbekannten Plätze der serbischen Hauptstadt.

"Einer der absolut vernachlässigten Plätze in Belgrad ist dieses ehemalige Messegelände. Während der 20er und 30er Jahre des 19. Jahrhunderts war hier ein wichtiges Geschäfts- und Kulturzentrum der Stadt. Im Zweiten Weltkrieg wurde an dieser Stelle ein Konzentrationslager errichtet. Mehrere tausend Menschen wurden hier ermordet. Es war ein Ort des Horrors. Aber das seltsamste ist, dass dieser Ort nicht zerstört wurde und nichts an seine Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg erinnert."
Obwohl nur sechs Monate nach der Besetzung im Winter 1942 alle Juden vertrieben, deportiert oder ermordet worden waren, finden sie in Titos Jugoslawien keine Erwähnung. Um den neuen sozialistischen Staat zu einen, erinnerte man einzig an die Opfergruppe der Partisanen. Das Konzentrationslager mitten in Belgrad passte einfach nicht zu diesem Geschichtsverständnis, urteilt Dubrovka Stojanovic:

"Historiker kämpfen darum, diesen Ort zu einer Gedenkstätte, zu einer Bildungsstätte zu machen. Die neue Regierung hat das versprochen. Aber diese Diskussion findet erst in den letzten sieben oder acht Jahre statt. Davor war der Ort völlig vergessen. Weil zunächst an die Opfer der Partisanen, an die serbischen Opfer gedacht werden sollte. Juden als Opfergruppe sollte es nicht geben."
Attentäter in neuem Licht
Doch inzwischen ist die Zeit reif für eine neue Geschichtsdebatte in Serbien. Zwei Theater in Belgrad, die bislang eher für nationalistisches, serbisches Pathos auf ihren Bühnen bekannt waren, haben sich dem neuen Zeitgeist geöffnet. In zwei modernen Inszenierungen erschien der Mörder des österreichisch-ungarischen Thronfolgers, Gavrilo Princip, plötzlich in ganz neuem Licht.

"In einem Theaterstück wurde Princip so dargestellt, als hätte er unseren Premierminister Zoran Djindjic im Jahr 2003 getötet. Das Stück wollte auf die Kontinuität von politischer Gewalt in unserer politischen Kultur hinweisen. Das andere Theaterstück zeigte Princip als Anarchist, ohne irgendwelche Ideen von einer serbischen Nation. Er wurde gezeigt wie ein Revolutionär, der in der heutigen Wirtschaftskrise lebt. Fast wie ein Aktivist von Anonymous oder der Occupy Wall Street Bewegung. Das waren zwei völlig neue Interpretationen von Gavrilo Princip."

Dabei gehe es um mehr als nur Theater, sagt Dubravka Stojanovic. Es zeuge von einer neuen Bewegung in Serbien, die sich zunehmend mit den Folgen von Geschichtsfälschungen befasse. Historikerinnen ihrer Generation wollen Geschichte endlich zu einer kritischen Wissenschaft machen und nicht zulassen, dass man sie weiter als Propagandainstrument missbraucht.
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