Selbstbefragung des literarischen Theaters

Von Ruth Fühner · 08.06.2006
Sein Stück "Publikumsbeschimpfung" machte den Autor Peter Handke schlagartig im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt. Während sich allerdings Handke die Inszenierung als "ruhige, vernünftige Anrede ans Publikum" mit "nicht mehr Körpersprache als nötig" vorgestellt hatte, choreografierte Regisseur Claus Peymann die Vorlage bei der Uraufführung 1966 äußerst effektvoll.
1966 gehen in Frankfurt und Berlin Tausende von Studenten gegen Notstandsgesetze und Vietnamkrieg auf die Straße. Bei ihrer Deutschlandtournee reißen die Beatles ganze Säle von den Stühlen mit einem Sound, der für Jugend und Aufbruch steht. Auch im Theater hält es das Publikum nicht mehr auf den Sitzen. Immer wieder drängt es auf die Bühne bei den Vorstellungen der ersten Experimenta, des Frankfurter Festivals für neues Theater, das noch Erwin Piscator, der große alte Mann der Avantgarde, angeregt hat. Während einige der Theatermacher überfordert sind von den Geistern, die sie riefen, und sie am liebsten zurückzaubern wollen in die Flasche, ist einer überaus zufrieden mit der Reaktion des Publikums: der Dichter Peter Handke.

"Ich bin sehr zufrieden, nicht nur zufrieden, sondern überrascht. Andererseits - ich finde, wenn etwas verkannt werden will, müssen erst Leute kommen, die die Fähigkeit haben, etwas zu verkennen. Diese Leute hatten gar nicht die Fähigkeit, etwas zu verkennen."

"Publikumsbeschimpfung" heißt Handkes Stück, das am 8. Juni 1966 bei der Experimenta in Frankfurt uraufgeführt wird, die konsequente Fortführung der Schriftstellerbeschimpfung, die Handke ein paar Monate zuvor beim Treffen der ehrwürdigen Gruppe 47 in Princeton vorgebracht hat, als er den alten Herren "Beschreibungsimpotenz" attestierte. Und so hörte sich die "Publikumsbeschimpfung" im Frankfurter Theater am Turm an:

"Ihr Gauner, Ihr Schrumpfgermanen, kein falscher Ton kommt von euren Lippen, ihr beherrschtet jederzeit die Szene, Eure Antlitze waren von seltenem Liebreiz, ihr wart eine Bombenbesetzung, ihr wart eine Idealbesetzung, ihr wart unnachahmlich, eure Komik war zwerchfellerschütternd, eure Tragik war von antiker Größe, ihr habt aus dem Vollen geschöpft. Ihr Miesmacher, ihr Nichtsnutze, ihr willenlosen Werkzeuge, ihr Auswürfe der Gesellschaft, ihr wart wie aus einem Guss, wir hatten heute einen guten Tag, wir waren wunderbar aufeinander eingespielt."

Vier junge Männer in Jeans und Pullover - schon das ein halber Skandal - rezitierten Sätze, denen Regisseur Claus Peymann den Rhythmus der neuen Beat-Musik abgelauscht hatte. Die andere Hälfte des Skandals war zum Teil ein Missverständnis. In diesem Stück wird keineswegs von vorne bis hinten geschimpft - und Opfer der Beschimpfung sind die Sprechenden selbst mindestens ebenso sehr wie das Publikum. Tatsächlich aber - und da hatten die Recht, die von einem Skandal sprachen - stellt das Stück das System Theater selbst in Frage, das Geschichtenerzählen und das Schauspielern und überhaupt alle unausgesprochenen Verabredungen zwischen Bühne und Parkett, die in Handkes Augen das Publikum stumpf und passiv machen.

"Sie werden kein Schauspiel sehen. Ihre Schaulust wird nicht befriedigt werden. Sie werden kein Spiel sehen. Hier wird nicht gespielt werden. Sie werden ein Schauspiel ohne Bilder sehen."

Eine volle Stunde Applaus, Buhen und Johlen folgte der Uraufführung, ein Orkan, bei dem sich das "beschimpfte" Publikum übrigens zu überaus komplexen Reaktionen fähig erwies.
"Sie schreien hier so heftig buh – was ist ihre Meinung?"

"Ohne Buh wäre dies ja kein Erfolg!"

"Sie buhen, um dem Stück den Erfolg ..."

"Um den Erfolg hochzupuschen. Um dem Stück das zu geben, was es gewollt hat offenbar."

"Ja, was wollte es denn?"

"Das Publikum durcheinanderwirbeln."

"Und da buhen Sie mit?"

"Ja, wenn die Schauspieler herauskommen, klatsche ich, wenn der Autor herauskommt, buhe ich."

Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" war kein Anfang, sondern ein Schlusspunkt: seine radikale Selbstbefragung des literarischen Theaters durch den literarischen Text ein Begräbnis erster Klasse. Allerdings präsentierten auf derselben Experimenta 1966 Bazon Brock und Otto Piene neue künstlerische und alltagskulturelle Formen jenseits des Literaturtheaters, die für das postdramatische Theater der Zukunft viel wirksamer werden sollten. In einem aber war Peter Handke damals seiner Zeit voraus: mit seinen kalkulierten Provokationen wollte er, jenseits von Inhalten, vor allem Aufmerksamkeit erregen - eine Haltung, wie sie einem inzwischen aus allen medialen Kanälen entgegenspringt und die Peter Handke zum ersten Dichter-Popstar deutscher Sprache machte.