Seefahrt

"Seeleute sind schlecht auf Heldengeschichten zu sprechen"

Moderation: Ulrike Timm · 22.04.2014
Der Kapitän geht zuletzt von Bord? Frauen und Kinder zuerst? Dass das zur See mitnichten immer so ist, zeigen die letzten größeren Schiffsunglücke. Der Historiker Rolf-Bernhard Essig spricht im Interview über den Ehrenkodex auf dem Wasser und ab wann ein Kapitän für eine Entscheidung auch verurteilt werden kann - und warum auf Helden kein Seemann scharf ist.
Ulrike Timm: Der Kapitän geht als Letzter von Bord! – Das ist eine eherne maritime Regel und Tradition. Beim Untergang eines Schiffes trägt der Kapitän bis zuletzt die Verantwortung für Passagiere und Mannschaft, er muss die Rettung koordinieren. Bei mehreren spektakulären Schiffsunglücken der letzten Jahre ist das nicht so gewesen, in Korea weinen im Moment 200 Eltern um ihre Schulkinder, die in der gesunkenen Fähre noch eingeschlossen sind, 100 Tote sind geborgen, Kapitän und Mannschaft gingen frühzeitig von Bord. Und beim Schiffsunglück der Costa Concordia vor der kleinen italienischen Insel Giglio war der Kapitän ebenfalls sehr schnell in Sicherheit und von den Schiffsplanken. Gilt der Ehrenkodex denn nicht mehr? Darüber spreche ich mit Rolf-Bernhard Essig, Ihnen womöglich bekannt vor allem durch seine Sprichwörteranalysen, aber Rolf-Bernhard Essig hat als Historiker und Autor auch Bücher übers Maritime geschrieben. Schönen guten Tag, Herr Essig!
Rolf-Bernhard Essig: Schönen guten Tag!
Timm: Das ist ja auch ein geflügeltes Wort, der Kapitän verlässt als Letzter das sinkende Schiff. Seit wann gilt dieser Satz?
Essig: Ja, eigentlich gilt er und gilt er nicht. Also, die früheste Überlieferung, die ich gefunden habe, findet sich im Hamburger Seerecht von 1292, da heißt es, wenn ein Schiff zerbricht, so soll der Schiffer, also der Kapitän quasi, zuallererst die Leute bergen und danach die Ladung. Das ist also damit schon im 13. Jahrhundert klar, der koordiniert das, der ist dafür zuständig. Und im Umkehrschluss ist dann auch der, der als Letzter sich rettet. Andererseits gilt mindestens ebenso lange, dass in auswegloser Situation der Schiffer, der Schiffsführer oder Kapitän ruft: Rette sich, wer kann, oder: All man for himself! Das ist ein ebenso wichtiger eherner Grundsatz. Also, es muss nicht der Kapitän mit untergehen, er kann auch sagen, schaut, dass ihr euch wirklich alle rettet!
Gesetz oder Ehrenkodex?
Timm: Ist das Ganze eigentlich ein Gesetz oder ein Ehrenkodex?
Essig: Es ist einerseits, wenn man es historisch sieht, kein Gesetz, sondern einfach auch eine Vernunfts- und eine Rechtsentscheidung. Solange der Kapitän, der Schiffsführer an Bord ist, auch bei militärischen Schiffen natürlich, ist das Eigentumsrecht auch geklärt. Wenn er von Bord geht, ist das Schiff auch aufgegeben, damit ergeben sich also auch eigentumsrechtliche Folgen, die man bedenken muss. Der Kapitän ...
Timm: Das heißt, im militärischen und zivilen Bereich ist das verschieden, habe ich das richtig verstanden?
Essig: In der Tat, denn beim Militär ist es ja so, nehmen wir zum Beispiel "Jagd auf Roter Oktober", da ist Geheimtechnik an Bord, die muss ein Kapitän von so einem Schiff natürlich bewahren. Das heißt, er muss dafür sorgen, das Schiff im Notfall sogar selber zu versenken, zu zerstören, damit es nicht in Feindeshand gerät. Da haben wir eine Tradition, die auch von Festungskommandanten eigentlich ausging, eine ordentliche Übergabe war durchaus möglich, musste aber eben immer vom diensthabenden Offizier, in dem Fall eben vom Captain organisiert werden. Beim Zivilen, bei der Handelsschifffahrt, ist es ja so, dass die über die längste Zeit auch Eigner waren. Die Mannschaft war Teilhaber oft. Und deswegen hatten die natürlich ein höchstes Interesse, an Bord zu bleiben, um den Eigentumsanspruch an dieses Schiff auch weiterhin aufrecht erhalten zu können.
Timm: Wenn nun ein Schiff sinkt und Menschen ertrinken, gehen wir mal wieder vom Militärischen aufs Zivile: Haben sich da die Kapitäne vergangener Zeiten konsequenter an diesen Satz gehalten, der Kapitän geht als Letzter von Bord? Das sind ja gleich zwei große Unglücke in den letzten Jahren, wo die Mannschaft und auch der Kapitän sich als Erste gerettet haben!
Essig: Ja. Also, es sind natürlich sogar noch eine ganze Reihe mehr. Man muss auch sagen, vergleichsweise, also mit anderen Katastrophen, wo auch Führungspersönlichkeiten da waren, sind es an Bord von Schiffen vergleichsweise wenige, weil dieser Ehrenkodex sehr, sehr stark ist. Es gibt allerdings, das muss ich vielleicht noch nachtragen, tatsächlich im internationalen Recht Regeln, die darauf hinarbeiten, dass der Kapitän bis zum Schluss an Bord bleibt, in bestimmten Länderrechten ist es auch kodifiziert, also in Italien zum Beispiel gibt es einen eigenen Paragrafen, der strafrechtsbewährt ist mit zwölf Jahren Gefängnis, dass der Kapitän als Letzter von Bord gehen muss. Es gibt – das ist ganz wichtig – im 19. Jahrhundert einen Hang zur Romantik, der die ganze Seefahrtssphäre unglaublich auflädt. Und da ist dann der heldenhafte Kapitän und der feige Kapitän eine stehende Figur.
"Man versteht sich als Team"
Das eine ist bei einem konkreten Fall, im Fall der "Medusa", passiert, als die 1816 sank, hat sich der Kapitän, die Adligen, abgesetzt und hat die normalen Passagiere hilflos zurückgelassen auf einem schrecklichen Floß, das endete in einer Katastrophe. Das andere ist die vielen noch bekannte Ballade von John Maynard, das geht auch auf einen konkreten Fall zurück, wo ein Steuermann auf einem brennenden Schiff das Schiff noch nahe genug ans Ufer bringen kann, um die Passagiere zu retten, unter Aufgabe seines eigenen Lebens. Aber heute ist an Bord so viel technisiert und geklärt, dass man sich eigentlich eher als Team versteht, zusammenarbeiten muss und hier Offiziere und Mannschaften in der Regel sehr besonnen und sehr gut aufeinander eingespielt reagieren, wenn denn die Reederei fachlich gutes Personal an Bord hat.
Timm: Nun sagt der Ehrenkodex ja auch nicht, dass der Kapitän wortwörtlich als der Letzte auf dem Schiff bleiben muss, das haben Sie uns schon erklärt, er kann ja oft auch gar nicht wissen, wenn ein Riesenschiff sinkt, wer da noch ist, wem noch zu helfen wäre, und wann alles verloren ist. Was heißt denn das nun für die Entscheidung, wenn ein Kapitän wirklich merkt, sein Schiff sinkt? Stellen wir uns vor ein Riesenschiff, das sind ja manchmal fast schon Kleinstädte, wie wörtlich muss er das nehmen, der Letzte zu sein?
Essig: Also, er muss es nicht wörtlich nehmen, es ist aber so, dass er sich auch im Klaren ist, es gibt vielerlei Strafrechtsvorschriften, die jetzt zum Beispiel unterlassene Hilfeleistung betreffen oder dass er Hilfsbedürftige zurückgelassen hätte. Solche Dinge hat er natürlich im Kopf. Er muss schauen, so weit wie möglich sicherzustellen, dass wirklich alle das Schiff verlassen haben. Das kann manchmal außerhalb eines Schiffes besser sein, wenn die Kommunikationsmittel zum Beispiel an Bord nicht mehr funktionieren, sodass er gar nicht weiß, wo ist überhaupt noch jemand. Dann wäre das über einen Hubschrauber zum Beispiel, falls da, vielleicht besser zu regeln. Er muss also auf jeden Fall die Koordinierungsgewalt, die Hoheit dieser Handlungen, die dort zur Rettung wichtig sind, weiterhin in der Hand behalten, das ist schon wichtig. Und es gibt immer wieder Fälle, wo die Kapitäne trotzdem aus vielleicht diesem Ehrenkodex, aus romantischen Geschichten oder auch aus Scham mit dem Schiff dann lieber untergehen, anstatt sich selbst zu retten, auch das muss man vielleicht an der Stelle mal klären!
Timm: Das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Historiker Rolf-Bernhard Essig über die Regel "Der Kapitän geht als Letzter von Bord". Und ein Beispiel, wo man eine, ja, sagen wir: romantische Verklärung eines Kapitäns hat, haben Sie uns schon genannt, "John Maynard", vielleicht kennen viele Hörer noch die berühmte Ballade von Fontane, da brennt ein Schiff, der Steuermann hält aufs Ufer zu, alle werden gerettet bis auf ihn selbst. Ich höre meinen Großvater das noch schmettern: "Und noch 15 Minuten bis Buffalo", bis zum Strand. Werden so Helden auch idealisiert und gemacht?
"Helden sind nicht teamfähig"
Essig: Ja, definitiv. Und ich habe auch ein Buch über Helden geschrieben, in dem dann klar wird, wie gefährlich so etwas sein kann. Ich weiß das von vielen Bereichen wie auch Sondereinsatzkommandos der Polizei, wo Helden ausgesondert werden, weil sie nicht teamfähig sind. An Bord sind diese romantischen Vorstellungen bekannt, man mag sie aber in aller Regel nicht. Die meisten Seeleute, mit denen ich spreche, die sind sehr, sehr schlecht auf solche Heldengeschichten zu sprechen, sie wissen: Nur wenn alle zusammenarbeiten, dann können auch Rettungsmaßnahmen, die hoch komplexe Aufgaben sind, gelingen, es gibt da extra ein Crowd Crisis Management, das in der Hinsicht auch grundlegend ist. Trotzdem hört es sich wunderbar an, solche Heldengeschichten zu hören.
Timm: Wenn es wirklich Spitz auf Knopf steht, dann nützen einem die Regeln vom – wie sagten Sie – Crowd Crisis Management vielleicht gar nicht so viel. Ich frage mich, wenn Sie sagen, Teamfähigkeit ist viel stärker gefragt als Heldentum heutzutage, wie ist das eigentlich bei der Ausbildung bei Kapitänen, bei Flugzeugpiloten, da gilt ein ähnlicher Ehrenkodex, wie werden die auf solche Situationen vorbereitet? Das kann man doch nicht nur theoretisch machen?
Essig: In der Tat gibt es dazu sehr gute Trainingsmöglichkeiten, die meistens mit Computersimulationen arbeiten, aber sehr erfolgreich sind. Ich weiß das, hier in Bamberg gibt es den Stefan Strohschneider, Dietrich Dörner, die solche Modelle entwickelt haben, die Leute sind zwar nur an Computern, aber innerhalb kurzer Zeit, wenn es heißt, im Maschinenraum ist Feuer ausgebrochen, da werden die Leute nervös, da sind genau die Fehler, die im Alltag in so einer Situation auch zutage träten, da. Man hat unglaublichen Stress, es kommen laufend Meldungen rein, und auf die Art und Weise wird dieses Risiko-Krisen-Management schon relativ realistisch geprobt, immer wieder auch geprobt, ist allerdings natürlich verbesserungsfähig, es müssten eigentlich mehr solche Schulungen stattfinden.
Timm: Gehen wir noch mal zurück zum tragischen Fährunglück in Südkorea, wo ja auch noch viele Schüler, viele Kinder zu den Opfern gehören und der Kapitän nach allem, was man weiß, auch noch aufgefordert hat, sie sollten doch still an Ort und Stelle bleiben. Gibt es dafür irgendeine verstehbare Erklärung?
Essig: Also, mir fehlen dazu die genaueren Informationen. So wie Sie es jetzt schildern, so wie es in den Medien zu lesen ist, ist es nicht zu verstehen. Es ist ... Wie ein Nervenzusammenbruch klingt das ja, schrecklich, denn man weiß, diese Regel "Frauen und Kinder zuerst", die auch im 19. Jahrhundert erstmals quasi als Ehrenkodex aufkommt, das ist ja sehr, sehr häufig auch angewendet worden. Und man kann sich nur vorstellen, dass er keinerlei Rettungsmöglichkeiten vielleicht für diese Menge an Menschen sah. Aber ehrlich gesagt fehlt mir dazu auch dann die Menge in Informationen, die vielleicht dazu noch nötig wären, bevor wir jetzt da den Stab endgültig brechen.
Timm: Rolf-Bernhard Essig, Autor vieler Bücher übers Maritime. Wir sprachen über den Ehrenkodex auf See, der Kapitän geht als Letzter von Bord des sinkenden Schiffes. Ich danke Ihnen!
Essig: Sehr gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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