Schwachstellen des Gehirns

27.01.2009
Sich genau zu erinnern, das gelingt den wenigsten, auch wenn wir gerne etwas anderes glauben. Was im Gehirn passiert und wie man sein Gedächtnis trainieren kann, zeigen die Biologin Sina Kühnel und der Psychologe Hans J. Markowitsch auf unterhaltsame Weise. Markowitsch ist Professor für Physiologische Psychologie und durch seine Gedächtnisforschung international bekannt geworden.
Gibt es tatsächlich falsche Erinnerungen? Haben sie einen Sinn, und vor allem, wie kommen sie zustande? Der Psychologe Hans J. Markowitsch und seine Kollegin Sina Kühnel beschäftigen sie seit vielen Jahren mit diesem Thema und kennen die Schwachstellen des Gehirns. Sie erläutern, was in unserem Denkapparat geschieht, wenn zwei Personen ein Ereignis unterschiedlich erinnern, beide aber sicher sind, die Wahrheit zu kennen.

Jeder kennt solche Situationen, wenn es zum Beispiel auf einem Familientreffen heißt, doch die Tante Else war dabei, während Onkel Fritz fest und steif behauptet, nein, sie war es nicht.

Unser Gehirn ist nicht auf detailliertes Erinnern angelegt, schreiben die beiden Wissenschaftler. Die 1300 Gramm schwere Substanz in unserem Kopf wird zwar immer wieder gerne mit einem Computer verglichen. Doch sie funktioniert anders. Einmal abgelegte Dateien (Informationen) bleiben nicht unverändert.

Im Gegenteil, je häufiger wir uns an etwas Vergangenes erinnern, desto mehr verändern wir es unbewusst, auch die Erinnerung. Denn bei jedem Erinnern wird die Datei, um im Bild des Computers zu bleiben, überschrieben, und dabei schleichen sich Fehler ein. Wir schmücken zum Beispiel ein Erlebnis besonders aus, und schon fügen wir unbewusst ein Detail hinzu, das sich so gar nicht ereignet hat. Trotzdem sind wir der festen Überzeugung, es erlebt zu haben.

Falsche Erinnerungen sind somit für den, der sie hat, nicht falsch. Das macht das Thema kompliziert. Die beiden Autoren umschiffen diesen verzwickten Sachverhalt, indem sie zwischen wissenschaftlichen Untersuchungen und privatem Alltag trennen. Denn die Frage, ob Tante Else auf dem letzten Familienfest dabei war oder doch nicht, kann die Forschung nicht beantworten. Schade, denn genau mit dieser Erwartung beginnt der Leser die Lektüre.
Was er im Folgenden erfährt ist aber nicht minder spannend. Die Autoren erklären verschiedene wissenschaftlich erforschte Mechanismen, die zu falschen Erinnerungen führen können: Aufmerksamkeit, Emotionen, bereits Erlebtes. Es gibt diverse Gründe dafür, warum sich Erinnerungen so unterschiedlich in unser Gehirn einprägen.

Für den Sitz des Gedächtnisses in unserem Gehirn gibt es keinen festgelegten Ort. Aber jede Information, die wir speichern, zeigt eine Gedächtnisspur. Diese entsteht durch die Weiterleitung von Signalen zwischen den Nervenzellen in unserem Denkapparat. Und je häufiger eine Verbindung genutzt wird, desto besser glauben wir uns zu erinnern.

Markowitsch und Kühnel widmen sich ausführlich der Anatomie des menschlichen Gehirns und geben einen breiten Einblick in die Lernforschung, in der das Thema Erinnern eine wichtige Rolle spielt. Dazu zitieren sie viele Versuche aus der Psychologie.

Ein bekanntes Experiment aus der Forschung ist der "Einkaufcenter Versuch". Erzählen Eltern ihren bereits erwachsenen Kindern, sie seinen im Alter von fünf Jahren in einem großen Einkaufscenter verloren gegangen, glauben diese sich später daran erinnern zu können, obwohl die Geschichte komplett erfunden wurde. Hier zeigt sich, schreiben die Autoren, dass vor allem Personen, die wir besonders wertschätzen und dazu gehören meist ältere Familienmitglieder, einen besonders großen Einfluss auf unsere Erinnerungen haben.

Ebenso spannend ist die Frage, welche Relevanz Zeugenaussagen haben.
Je nachdem zu welcher Zeit, von wem und wie die Personen befragt werden unterscheiden sich die Ergebnisse.
Auch historische Berichte von Zeitzeugen haben dieses Problem. Ein bekanntes Beispiel ist der Angriff im Zweiten Weltkrieg auf Dresden. Tiefflieger, so einige Zeugen, sollen sie förmlich durch die Stadt gejagt haben. Nachweislich konnten aber Flugzeuge an diesem Tag nicht im Tiefflug über die Stadt fliegen. Extremer Stress kann demnach zu falschen Erinnerungen führen, und bei traumatischen Erlebnissen werden oft nur Ausschnitte einer Situation gespeichert.
Kühnel und Markowitsch sparen nicht an Details. Leider sind die vielen interessanten Ausführungen aus der Wissenschaft mit zahlreichen Fachbegriffen durchsetzt. Für den Laien macht das die Lektüre streckenweise etwas anstrengend.

Positiv dagegen ist am Ende die Auseinandersetzung der beiden Autoren mit der Frage, welche Möglichkeiten jeder einzelnen hat, um sich vor falschen Erinnerungen zu schützen.

Hier gibt es zwar keine abschließende Beurteilung. Aber Kühnel und Markowitsch bieten einfache Techniken, mit denen wir uns im Alltag bewusst werden, wie und warum wir uns Erinnern: Tagebuch schreiben, monotone Abläufe meiden, bewusst durch den Tag gehen. Wer diese Ratschläge befolgt, wird über die Frage, ob Tante Else nun bei der vergangenen Feier dabei war oder nicht, nur lächeln.

Rezensiert von Susanne Nessler

Sina Kühnel, Hans J. Markowitsch: Falsche Erinnerungen. Die Sünden des Gedächtnisses,
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2008,
248 Seiten, 19,95 Euro