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Karina Sainz Borgo: "Nacht in Caracas"
Großartige Literatur, die alles wagt

Karina Sainz Borgos schildert in ihrem ersten Roman "Nacht in Caracas" in Bildern von apokalyptischer Wucht die Geschichte einer jungen Frau, die im diktatorischen Übergangs-Venezuela von Hugo Chavez zu Nicolás Maduro ums Überleben kämpft.

Von Peter Henning | 20.08.2019
Buchcover: Karina Sainz Borgo: „Nacht in Caracas“
Buchcover: Karina Sainz Borgo: „Nacht in Caracas“ (Buchcover: S. Fischer Verlag, Hintergrundfoto: AP)
Der zwischen 1999 und 2013 regierende Staatspräsident Venezuelas Hugo Chavez ließ per Gesetz verfügen, dass der Rundfunk der Regierung zu Propagandazwecken Sendezeit zur Verfügung stellen muss. Anschließend kam es unter Chavez` Nachfolger Nicolás Maduro zu weiteren massiven Einschränkungen der Pressefreiheit, bis hin zu fragwürdigen Festnahmen von Journalistinnen und Journalisten - und sogar deren Ermordungen.
All das thematisiert die 1982 in Caracas geborene und vor zwölf Jahren nach Spanien emigrierte Journalistin Karina Sainz Borgo in ihrem ersten, auf Deutsch vorliegenden Roman "Nacht in Caracas", der zeitgleich in 22 Ländern erscheinen wird. Es sieht so aus, als ob diese wilden, emotionsgeladenen 220 Seiten Prosa fortan zum Wichtigsten dessen gehören werden, was uns seit den Schriften des Uruguayers Juan Carlos Onettis aus Lateinamerika erreicht hat. Denn "Nacht in Caracas" ist ein zorniges, ein hartes und in seinem aufklärerischen Furor unwiderstehliches Buch, das furchtlos den Finger in die Wunden legt. Geschrieben von einer großen Verzweifelten, die das mit bisweilen ungefilterter Wut beschreit und beschreibt, was zwei Diktatoren aus ihrer Heimat gemacht haben: Ein im Chaos versinkendes, von Gewalt und Unterdrückung unterhöhltes Land, in dem die Meinungsfreiheit systematisch unterdrückt wird – und all jene, die sich mutig gegen das repressive System stellen, um ihr Leben fürchten müssen.
Latenter Gewalt und Unterdrückung
Sainz Borgo führt dies bildhaft anhand der Geschichte ihrer erkennbar autobiographisch gefärbten Protagonistin Adelaida Falcón vor, die als Korrektorin für einen Buchverlag arbeitet. Zu Beginn des Romans steht sie am Grab ihrer verstorbenen Mutter und lässt deren letzte Tag vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Von dort, dem noch einmal erinnerten, in tagtäglicher Mühsal verbrachten Einzelschicksal, sind es nur ein paar schnelle Gedankenschritte für die Chronistin, um in der von marodierenden, plündernden und gewaltsam fremde Wohnungen okkupierenden Banden und systemtreuen Schlägertrupps dominierten Gegenwart der Millionenstadt Caracas anzukommen, deren gesellschafts-politisches, von Inflation, latenter Gewalt und Unterdrückung bestimmtes Klima Sainz Borgo so beschreibt:
"Das Bankensystem war inzwischen Fiktion. Das Geld stapelte sich zu einer Skyline. Und war wertlos. Man brauchte zwei Türme Hunderter für eine Flasche Öl, falls vorrätig. Um sechs Uhr abends noch auf der Straße zu sein, war ein dummes Spiel mit dem Leben. Denn alles Mögliche konnte den Tod bringen: Ein Schuss, eine Entführung, ein Überfall. Stundenlang fiel der Strom aus, und der Sonnenuntergang bedeutete anhaltende Finsternis."
Sonnenuntergang bedeutete anhaltende Finsternis
Mitten in diesem oberirdischen Hades kämpfen Menschen wie Adelaida und ihre Freundin Ana ums nackte Überleben. Bis eine Frauenpatrouille Adelaida gewaltsam aus ihrer Wohnung vertreibt – und sie sich in die Wohnung ihrer Nachbarin Aurora Peralta flüchtet. Als sie die Nachbarin tot auf dem Boden liegend findet, beschließt sie kurzerhand, die Identität der Toten anzunehmen. Sie verbrennt die Leiche im Hof und verwischt sämtliche eigene Spuren. Mithilfe gefälschter Papiere, für deren Beschaffung sie Kopf und Kragen riskiert, gelingt ihr zuletzt die Flucht aus dem im Chaos versinkenden Land.
"Meine Verwandlung in Aurora Peralta hatte begonnen, ja, man konnte sagen, dass ich die erste Linie des Betrugs erfolgreich überschritten hatte. Denn Aurora Peralta war nun auch totes Fleisch, wie so viele in dieser Gespensterstadt. Aurora Peralta war tot, aber ich war am Leben. Und meine Pflicht war es, zu überleben."
Ungestüm und in Bildern von großer, unvergesslicher Leuchtkraft macht uns Karina Sainz Borgo zu staunenden Zeugen der Transformation und Wiedergeburt ihrer an Leib und Leben bedrohten Heldin. Dabei gelingt es ihr wie lange keiner Autorin mehr, uns den Schmerz fühlbar zu machen, den es ihre Protagonistin kostet, diesen Schritt zu vollziehen - nämlich die Geburt einer neuen Existenz in Freiheit im Geiste der Lüge und des Betrugs. Dabei erstrahlen die Schilderungen, die uns diese Autorin in mal lakonisch-dichter, mal exzessiver Sprache hinwirft in einer ästhetischen Schönheit, die aus dem Wissen um die Würde jedes Menschen entsteht. Und die selbst im Scheitern erhalten bleibt - bleiben muss.
Das Resultat ist ein Buch, wie es nur alle Jubeljahre entsteht: Dunkel, atmosphärisch dicht und beklemmend liegt es vor uns - mit einer unvergesslichen Frauenfigur im Zentrum. Seiner Verfasserin sei an dieser Stelle für ihren Mut zu dieser literarischen Anstrengung gedankt. Denn sie macht uns klüger und führt vor, wie großartig eine Literatur sein kann, die alles wagt – und sei es auf Teufel komm raus!
Karina Sainz Borgo: "Nacht in Caracas"
aus dem Spanischen von Susanne Lange
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 220 Seiten, 21 Euro.