Schottland nach dem Brexit-Votum

Die Chance nutzen - für die Unabhängigkeit

Die schottische Flagge in London
Schottland stimmte mit 62 Prozent gegen den Brexit © picture alliance / dpa / Hannah Mckay
Von Gerwald Herter · 30.06.2016
Die Schotten wollten in der EU bleiben und sich nicht gegen ihren Willen mit dem Rest Großbritanniens zum Brexit verdonnern lassen. Wollen sie jetzt ein zweites Unabhängigkeitsreferendum?
Der Kampf um die schottischen Interessen wird auch in London ausgetragen. Helfer sammeln Visitenkarten ein. Niemand wird übersehen. Man wird diese Kontakte in nächster Zeit ja noch brauchen:

"We’ll take out by 12. Anybody who has not given his business card, speak to Max, who’s at the door with the blond hair."
Während Max, der Blonde an der Tür, auch mit Informationen weiterhilft, gibt Tamina Sheich Interviews. Sie ist Unterhaus-Abgeordnete der Scottish National Party in Westminister. Sollte es nach 2014 nochmals ein Unabhängigkeitsreferendum geben, müsste eine Mehrheit ihrer Kolleginnen und Kollegen dort zustimmen. Das betrachtet Tamina Sheich jedoch nicht als entscheidendes Hindernis. Die Befürworter des Brexit seien ja deutlich gewarnt worden, so Tamina Sheich:
"Mit Blick auf die Demokratie und die Tatsache, dass wir da von Beginn an sehr klar waren, könnte es doch keinen Grund geben uns das Referendum zu verwehren, wenn dieses Szenario eintritt. 62 Prozent der Schotten haben für die EU gestimmt und sind gegen ihren Willen herausgewählt worden."
Bei der Pressekonferenz in London hat aber vor allem Alex Salmond die Fragen beantwortet. Er scheint sich dabei wohl zu fühlen, lächelt immer wieder in die Runde.
Nachdem das Unabhängigkeits-Referendum 2014 gescheitert war, trat er zurück. Jetzt sieht er offenbar eine zweite Chance um seinen Traum zu verwirklichen. Voller Respekt erinnert er immer wieder an die Haltung und die Äußerungen von Nicolas Stuergeon zum Brexit-Referendum, um dann freundlich zu interpretieren, was das aus seiner Sicht bedeutet:
"Schottland wird seine Position in Europa sichern. Es bleibt abzuwarten, wie das geschieht. Aber das ist das große Ziel: schottische Familien, schottische Arbeitsplätze und die Position Schottlands zu verteidigen. Unsere Unabhängigkeit wird wahrscheinlich das Ergebnis sein."
Salmond ist seit Jahrzehnten im politischen Geschäft. Auch durch hartnäckig-kritische Fragen lässt er sich nicht aus der Reserve locken. Hat er denn nicht insgeheim gehofft, dass Großbritannien die EU verlassen würde, schon um die Unabhängigkeit Schottlands wieder voranzutreiben?
Alex Salmond: "Ich habe mich in London, Oxford, in Cardiff, im nordirischen Derry und in Schottland an der Kampagne beteiligt. Die haben alle gegen den Brexit gestimmt."

Loblied auf die Freundschaft zu Deutschland

Für Salmond sind die Dinge ganz einfach. Die Fragen spanischer Journalisten nach einem möglichen Domino-Effekt hat er schon erwartet. Denn würde sich Schottland unabhängig machen, könnte zum Beispiel Katalonien folgen. Das sei etwas völlig anderes, sagt der frühere SNP-Chef, denn Spanien wolle die EU ja nicht verlassen – im Gegensatz zu Großbritannien, also sei das kein Präzedenzfall. Und natürlich hält Salmond auch eine Botschaft an Angela Merkel bereit:

"Die deutsche Kanzlerin ist eine der wichtigsten politischen Akteure in Europa. Die Haltung der deutschen Politiker ist jetzt extrem wichtig, aber auch die der Deutschen. Mir fällt kein Land in Europa ein, mit dem uns eine engere Freundschaft verbindet als mit Deutschland."
Also auch nicht England, schon weil England nicht mehr zu Europa gehört. In London leben viele Schotten, die so denken.

Kevin ist Ende 30, beruflich hat er mit Websites zu tun, der Job ist okay. In London fehlt ihm nichts, bis auf seine schottische Heimat:
"London ist anders als England. Ich denke London versteht England nicht - und England nicht London."
Kevin spricht von der britischen Arroganz, die die Schotten aus seiner Sicht nicht teilen. Dieses "Sich-Besser-Fühlen" als andere habe zum Ergebnis des Referendums beigetragen. Den Preis der Unabhängigkeit Schottlands würde Kevin in Kauf nehmen, selbst wenn er dann noch in London wohnt. Eine eigene Währung, Bürokratie, für ihn ist das alles nicht entscheidend. Selbst mögliche Grenzkontrollen zwischen England und Schottland schrecken ihn nicht ab:

"Für mich persönlich wäre es nicht schwieriger, von hier aus nach Schottland zu reisen als jetzt nach Paris. Natürlich wird auch das noch schwieriger, wenn Großbritannien die EU verlässt. Aber Grenzkontrollen sind eher lästig und keine wirkliche Hürde."

Drinnen ist Kevin mit Etienne Duval verabredet. Er ist Schotte, hat aber einen französischen Pass und eine englische Freundin, die in London wohnt. Etienne Duval macht Pressearbeit, bildet Journalisten aus und hat ein Buch über Schottland geschrieben. Dennoch will er sich nicht auf irgendwelche Vorhersagen einlassen. "Ich wäre ein Narr", sagt er.

Der Brexit hat die Vorzeichen verändert

Aber dann zählt er viele Faktoren auf, die für den Erfolg eines zweiten Unabhängigkeitsreferendums günstig scheinen: 2014 hat die Zustimmung immerhin bei 45 Prozent gelegen – schon viel mehr als die 30 Prozent, an die man sich gewöhnt hatte. Außerdem sagt Etienne Duval, dass die Sorge um die Euro-Krise beim letzten Referendum eine große Rolle gespielt habe. Und auch aus seiner Sicht, hat das Ergebnis des Brexit Referendums die Vorzeichen entscheidend verändert:

"Als ich klein war, galten in Schottland zwei Dinge als unumstößlich: Die Berliner Mauer würde nie fallen und die Scottish National Party würde niemals an die Macht kommen. Und was jetzt? Das ist schwer vorherzusehen, aber ich denke in meiner Lebenszeit, und ich bin 59, wird das die größte Chance für die SNP sein, die Unabhängigkeit Schottlands zu erreichen."