Schöneberger Splitter (3)

Kemal

Junge mit Tornister auf dem Rücken, der sich auf dem Schulhof hinter einem Baum versteckt.
In der Schule "der Neue" zu sein, ist gar nicht so leicht. © picture alliance / dpa / Julio Pelaez
Von Michael Wildenhain · 09.04.2015
Im "Originalton" dieser Woche erinnert sich der Autor Michael Wildenhain an Szenen seiner Kindheit in einem Kiez in Berlin-Schöneberg in den 1960er-Jahren. Hier begegnen wir seinem neuen Mitschüler Kemal, der auf dem Schulhof eiserne Nerven bewahrt.
In der ersten großen Pause bleibt Kemal, der neue Mitschüler, auf den wenigen Stufen vor dem Schuleingang stehen, schaut sich um, als wolle er sich orientieren, und beginnt gleich darauf, den Blick gesenkt, das Kinn auf der Brust, eine Runde zu laufen, eine Ellipse, von der er nicht mehr abweicht.
"Meine Fresse", sagt Pallasch, "der kann gucken."
Nach der dritten Runde hebt Kemal den Kopf, sein Gesicht zuckt, während sich die Lippen kaum merklich bewegen und die Arme und Hände ihre Wanderung beginnen. Ich weiß, dass er niemanden wahrnimmt, und wünsche verzweifelt, es gelänge mir, ihn vor den Blicken der anderen zu verbergen.
"Was ’n das?", fragt Pallasch. "Is der ’n bisschen plemm-plemm?"
Wie die meisten auf dem Schulhof zieht es ihn näher zu dem Jungen hin.
Eine Hofpause dauert 20 Minuten. Am Ende haben wir uns zu zweit vor dem Eingang in einer Reihe aufzustellen, um zurück in die Klassen zu gehen.
Es sind keine 15 Minuten vergangen, als sich entlang der Bahn des Jungen ein Spalier gebildet hat, in dem er, Blick am Boden, seine Runden läuft.
Als Bannicke kurz vor dem Läuten zur dritten Stunde vortritt und dem Jungen den Weg verstellt, stößt Pallasch mir den Ellenbogen sanft in die Seite und sagt: "Mann, ich hab’s gewusst."
Falls wir eine neue Musiklehrerin bekämen, wäre Bannicke derjenige, der den ersten Papierflieger über den Kopf der Musiklehrerin hinweg nach vorn zur Tafel segeln ließe und damit das Signal gäbe für die anderen Schüler.
"Das wird was", sagt Pallasch.
Ein Witz, über den niemand lacht
Ich muss an Pallaschs Eltern denken. Sein Vater, Schlachter, zerlegt am Westhafen Tiere, die Mutter leimt zu Hause aus rotem Krepppapier und einer weißen Borte Nikolausmützen für Schokoladenmänner.
Bannicke baut sich vor Kemal auf, wehrt Perkowski, seinen besten Freund, unwirsch ab und sagt: "He, Hadschi Halef Omar, kennste den schon?"
Ohne den Kopf zu heben, ist Kemal stehen geblieben.
"Was is’ der Unterschied", Bannicke grinst in die Runde, "zwischen Milchreis und ’nem Epilepi?"
Er dehnt die Vokale des letzten Worts. Perkowski zerrt erneut an Bannickes Jackenärmel. Ohne den Freund zu beachten, fügt Bannicke hinzu: "Der eine liegt in Zucker und Zimt – der andere liegt im Zimmer und zuckt."
Er wartet. Nichts geschieht. Niemand lacht.
Bannicke lacht, kurz und hell. Keiner stimmt ein.
Kemal bleibt, bis es zur Stunde geläutet hat, stehen, wo er die Runde wegen Bannicke unterbrochen hat, der langsam, als könne ihn der Neue im nächsten Moment schlagen, Schritt für Schritt zurückweicht, während wir uns verlaufen, den Kopf zwischen den Schultern und ohne uns anzuschauen.
Bloß Pallasch neben mir flüstert: "Mann, ey, der is’ eisern."
Und ich denke: Ist doch nicht schlecht, dass Kemal, der seltsame Kemal, zu mir gezogen ist.
Michael Wildenhain ist der Sohn eines Schlossers und einer Erzieherin. Er wuchs in West-Berlin auf. Nach dem Abitur absolvierte er ein Praktikum als Maschinenbauer und studierte anschließend u.a. Informatik, Philosophie, Mathematik und Wirtschaftsingenieurwesen. Er übte diverse Hilfsjobs aus und gehörte in den frühen 80er-Jahren zwei Jahre lang zu einer Gruppe jugendlicher Hausbesetzer in Berlin. Seit 1987 lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Er ist Verfasser von Romanen, Erzählungen, Gedichten, Theaterstücken und Jugendbüchern. Wildenhains jüngster Roman "Das Lächeln der Alligatoren" stand auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015.
Der Schriftsteller Michael Wildenhain
Der Schriftsteller Michael Wildenhain© dpa / picture alliance / Jens Kalaene
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