Schöneberger Splitter (1)

Der Neue

Dunkle Erinnerungen: Wolken über dem Gasometer in Berlin-Schöneberg
Dunkle Erinnerungen: Wolken über dem Gasometer in Berlin-Schöneberg © dpa / picture alliance / Hauke-Christian Dittrich
Von Michael Wildenhain · 07.04.2015
Im Originalton dieser Woche erinnert sich der Autor Michael Wildenhain an seine Kindheit im Berliner Stadtteil Schöneberg. Es sind kleine Miniaturen über Freunde, Schule und Alltag, die einen Eindruck geben vom West-Berlin der 1960er-Jahre.
Er sei am Tag zuvor ins Eckhaus gezogen, gemeinsam nur mit seiner Mutter, das wird erzählt, und ich höre davon, während ich mit meiner Mutter am folgenden Vormittag einkaufen gehe: Der Lebensmittelladen, die Drogerie, der Fleischer, egal, wohin wir kommen, die neuen Nachbarn sind Gegenstand getuschelter Gespräche. Jede Schilderung klingt, als zögen nicht Menschen wie wir in die geräumige Wohnung mit den zwei Balkonen, sondern als seien die Frau und ihr Sohn, ein Junge in meinem Alter, Figuren einer Erzählung aus tausendundeiner Nacht.
Neugierig geworden durch die Gerüchte, bemühe ich mich nach dem Essen, als der Umzugswagen vor unserem Haus in der Belziger Straße auftaucht, keine Einzelheit des Einzugs zu versäumen. Doch obwohl ich mich, während die Frau die Möbelträger anweist, nicht mehr von meinem Platz am Fenster entferne, entdecke ich keinen Jungen in meinem Alter, den ich bei sich zu Hause werde besuchen können. Entgegen aller Gerüchte trifft der Junge erst später ein, am selben Tag wie die Möbel.
Wir wohnen seit einiger Zeit in einer Wohnung, deren eines Zimmer ein Gästezimmer hat werden sollen. Wir haben nie Besuch, schon gar keinen, der über Nacht bei uns geblieben wäre.
Gelegen in einem während des Kriegs fast vollständig zerstörten Seitenflügel, ragt das Zimmer in den Hof und ermöglicht so den Blick in die große Eckwohnung. Vom ersten Tag an dient dem Jungen das Zimmer gegenüber als Raum, in dem man nicht gestört wird: beim Spielen – oder Träumen, ich träume gern und viel.
Am Tag der Ankunft des Jungen baue ich im nie genutzten Hofzimmer eine Höhle aus Decken und Kissen. Wie jeden Samstag werden im Hof die Mülltonnen geleert, die Deckel klappern, sodass ich aufblicke und in der Wohnung gegenüber den Jungen in dem ungenutzten Raum stehen sehe. Er verharrt in der Mitte des fast leeren Zimmers und tut nichts. Ohne zu überlegen, hole ich mein Fernglas und husche zurück ins Zimmer zum Hof. Auch ohne Fernglas könnte ich den Jungen beobachten, aber ich will sein Gesicht sehen.
Als habe er auf meine Rückkehr gewartet, dreht er sich um. Obwohl er mich im dunklen Raum nicht erkennen kann, habe ich den Eindruck, als schaue er mich abweisend an. Indem ich das Fernglas vor die Augen hebe, erkenne ich, dass der Junge abwesend wirkt, ein Automat, dessen Gesicht zuckt und dessen Lippen sich bewegen. Unsicher, ob ich mich durch die Spiegelung der Scheiben habe täuschen lassen, zweifle ich im nächsten Moment nicht daran, dass sich der schmale, schwarzhaarige Junge, der Kemal heißt, eigenartig verhält.
Nicht nur führt er Selbstgespräche, er streicht auch mit der linken, dann der rechten und wieder mit der linken Hand durch sein Gesichtsfeld, fährt mit einer abgemessenen Bewegung vor der Nase und den Augen entlang, beschreibt einen Halbkreis nach links und einen nach rechts, und während ich mir vorstelle, wie ihn meine Mitschüler auf dem Schulhof behandeln werden, wende ich mich ab.
Ich kauere mich in meiner Höhle zusammen, beschließe, den Jungen nicht zu besuchen, nie!, verberge den Kopf in den Armen und weine ohne Geräusch.

Michael Wildenhain wuchs in Berlin-Schöneberg auf. Nach Abitur und Studium übte er diverse Hilfsjobs aus und gehörte in den frühen 80er-Jahren zwei Jahre lang zu einer Gruppe jugendlicher Hausbesetzer in Berlin. Seit 1987 lebt er als freier Schriftsteller in Berlin.


Der Schriftsteller Michael Wildenhain
© dpa / picture alliance / Jens Kalaene
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