Schicksale unter dem Drahtseilakt

Von Tobias Wenzel · 19.11.2009
Im August 1974 schreitet der Hochseilartist Philippe Petit über ein Drahtseil, das er zwischen die Zwillingstürme des World Trade Centers gespannt hat. Um dieses Ereignis herum drapiert der Autor Colum McCann seinen Roman "Die große Welt", für den er jetzt mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde.
"Wer ihn sah, verstummte. Auf der Church Street. Auf der Liberty. Cortlandt. West Street. Fulton. Vesey. Es war eine Stille, die sich selbst hörte, schrecklich und schön. Anfangs dachten manche, es müsse eine Lichtspiegelung sein, etwas, das mit dem Wetter zu tun habe, mit dem Spiel von Licht und Schatten."

Ein Tag im August 1974. Ein Mann schreitet über ein Seil, das er zuvor zwischen den Zwillingstürmen des World Trade Center gespannt hat. Dieser historische Drahtseil-Coup von Philippe Petit bildet den Rahmen des 500 Seiten starken Buchs "Die große Welt", für das Colum McCann nun den National Book Award erhält. Aber der 44-jährige Ire, der selbst unter Höhenangst leidet, bleibt im Buch nicht lange in der Luft:

"Es handelt mehr von den Menschen auf dem Boden und jenen, die ihren ganz persönlichen Seiltanz wenige Zentimeter über dem Boden vollführen. Ich interessiere mich für die anonymen Winkel der Stadt, all jene Menschen, die in Geschichtsbüchern nicht erwähnt werden."

Als Colum McCann, ein erfrischend unprätentiöser Mann mit Dreitagebart, das sagt, sitzt er auf dem Sofa seiner Wohnung im edlen Nordosten Manhattans. Nur einen Steinwurf von seiner Wohnung entfernt, in der Park Avenue, lebt im Roman Claire Soderberg und trauert um ihren in Vietnam gefallenen Sohn. Als sie Besuch von anderen Müttern verstorbener US-Soldaten bekommt, erzählt eine, wie sie den Hochseilartisten beobachtet hat.

Claires Ehemann muss als Richter ein Urteil zum festgenommenen Seiltänzer sprechen. Direkt davor entscheidet er über den Fall von zwei schwarzen Prostituierten. Diesen beiden, Tillie und ihrer Tochter Jazzlyn, und anderen Prostituierten der Bronx hilft der irische Mönch John Corrigan. Der wiederum holt die junge Jazzlyn mit einem Kleinbus vom Gericht ab, als die Mutter zu einer Haftstrafe verurteilt wird, und gerät in einen fatalen Autounfall mit einem Künstlerpaar, das schließlich Fahrerflucht begeht.

So hat Colum McCann letztlich alle seine Hauptfiguren direkt oder indirekt mit dem Drahtseilakt aus dem Sommer 1974 verbunden.

"Für mich stellte es das perfekte Bild dar, um die Geschehnisse am 11. September zu bewältigen. Dieser Seilakt ist ein künstlerischer Akt der Schöpfung und gerade kein Akt der Zerstörung. Außerdem entdeckte ich, dass der August 1974 so viele Gemeinsamkeiten mit unserer Zeit hatte. Die Soldaten kamen gerade nach Hause, aus dem Vietnamkrieg, wie nun aus dem Irak. Präsident Nixon war genauso ineffektiv wie Präsident George W. Bush. Wohin auch immer wir uns im Jahr 1974 begeben, wir landen stets im Hier und Jetzt."

Im letzten Teil des Buchs macht McCann einen Sprung ins Jahr 2006. Wir erleben eine junge Frau, die einer Prostituiertenfamilie entstammt, die wir schon kennen. Immer, wenn McCann über Prostituierte schreibt, wirkt es leider klischeehaft. Die Frauen scheinen nur aus Lippenstift zu bestehen und aus Sätzen wie "ich konnte mich nicht erinnern, dass irgendein Pablo auf mir geschwitzt hätte". So die Prostituierte Tillie.

"Sie erzählt in dem Kapitel, das ihr gewidmet ist, aus dem Gefängnis. Im Grunde genommen ist es die umfangreiche Abschiedsnotiz einer Selbstmörderin. Aber die Figur ist, hoffe ich, sehr, sehr lustig. Ich muss immer noch lachen, wenn ich an sie denke. Sie hat einen sehr schrägen New Yorker Humor. Und sie sagt: 'Egal, was gerade passiert – ich kann immer noch lachen und an das Gute aus der Vergangenheit denken'."

Tillie ist, entgegen der Einschätzung des Autors, seine schwächste und unglaubwürdigste Figur. Auch dürften dem aufmerksamen Leser die vielen hinkenden Vergleiche und schwülstigen Betrachtungen sauer aufstoßen: "Das alles strömt ihr heraus wie dankbare Luft aus ihren Lungen" ist nur ein Beispiel dafür, dass das Buch offensichtlich kaum oder gar nicht lektoriert wurde, und zwar im englischen Original. Dem deutschen Verlag und dem ausgezeichneten Übersetzer Dirk van Gunsteren trifft da keine Schuld. So könnte man sich fragen, ob der National Book Award für dieses geradezu unlektorierte Buch verdient ist.

Andererseits weist McCanns Roman "Die große Welt" beachtliche Passagen auf, die erahnen lassen, was für ein großer Wurf das gesamte Buch geworden wäre, wenn es einen strengen Lektor gehabt hätte. So lotet McCann zum Beispiel äußerst präzise und mit Feingefühl das Seelenleben jener Claire aus, die um ihren in Vietnam gefallenen Sohn trauert. Mitreißend erzählt er die rührende Kindheit des Iren John Corrigan und seines Bruders. Und sprachlich gekonnt und atmosphärisch dicht setzt er den Drahtseilakt zwischen den Zwillingstürmen in Szene:

"Die Menschen auf den Straßen hielten gleichzeitig den Atem an. Plötzlich schien die Luft ihnen allen zu gehören. Der Mann dort oben war wie ein Wort, das sie zu kennen meinten, obgleich sie es noch nie zuvor gehört hatten. Er trat hinaus."