Schäubles kühne Vision

Von Stephan Detjen · 25.06.2012
Grundgesetz adé. So deutlich wie Wolfgang Schäuble hat das bisher noch kein Regierungsvertreter formuliert. Mehr als 60 Jahre lang war die Bundesrepublik Deutschland mit dem Grundgesetz in bester Verfassung. Doch im transnationalen Europa des 21. Jahrhunderts sind seine Grenzen erreicht, meint Stephan Detjen.
Immer öfter unterläuft das hektische Krisenmanagement der europäischen Staats- und Regierungschefs die parlamentarischen Mitspracheverfahren auf nationaler Ebene. Immer tiefer greifen die Kompetenzübertragungen an die europäischen Institutionen in das ein, was das Bundesverfassungsgericht als unangreifbaren Kernbestand nationalstaatlicher Souveränität beschreibt. Die Politik reagiert darauf mit Verunsicherung und hilflos anmutenden Versuchen, mögliche Verfassungsbrüche schon im Voraus notdürftig zu heilen.

Heute bestätigte die Bundesregierung, dass sie auch für den Euro-Rettungsschirm ESM eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat anstrebt. Selten ist die Angst vor einem möglichen Einspruch des Bundesverfassungsgerichts so offen und so verzweifelt zum Ausdruck gekommen. Denn die Karlsruher Richter werden die Euro-Gesetze am Ende nicht an den numerischen Zustimmungsquoten im Parlament bemessen, sondern allein am Wortlaut der Verfassung.

Die aber hat auch durch noch so hohe Parlamentsmehrheiten unverrückbare Grenzen, wenn es um die Staatlichkeit der Bundesrepublik geht. In ihrem Urteil zum Lissabon-Vertrag haben die Karlsruher Richter deswegen einer weiteren Übertragung substantieller Kompetenzen an die EU einen Riegel vorgeschoben. Zugleich hat das Gericht am Ende des Urteils selbst auf die in Artikel 146 des Grundgesetzes vorgesehene Möglichkeit einer neuen Verfassungsgebung verwiesen. Es ist die verfassungsrechtliche ultima ratio: die Abschaffung der Grundgesetzes durch eine Neugründung der Bundesrepublik in einem vereinten Europa.

Um nicht weniger geht es bei der Diskussion, der Wolfgang Schäuble heute einen spektakulären Impuls gegeben hat. Er demonstriert damit zugleich die Zuversicht, dass die Mehrheit der Deutschen bereit ist, diesen Weg demokratisch zu legitimieren. Denn wenn eine neue Verfassung mit dem finalen Segen des Grundgesetzes in Kraft treten soll, muss sie vom Volk "in freier Selbstbestimmung" - so fordert es Artikel 146 - verabschiedet werden. Das Ziel, das Wolfgang Schäuble hier markiert hat, ist eine große, wahrscheinlich sogar europaweite Abstimmung über einen neuen Verfassungsvertrag der Europäischen Union einerseits und ein neues Grundgesetz, das sich in den überwölbenden europäischen Verfassungsrahmen einfügt.

Eine kühne Vision. Sie bezeichnet die große Aufgabe, die sich einer künftigen Regierung nach der Bundestagswahl im Herbst nächsten Jahres stellt. Wer auch immer sie offen und beherzt ergreift, demonstriert den demokratische Gestaltungswillen, den Deutschland und Europa in den nächsten Jahren brauchen.

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