Sachbuch

Die Stimme eines staunenden Forschers

Aufgenommen am 10.12.2013 in Brasilien.
Blick auf den Zusammenfluss der Flüsse Rio Negro (links) und Solimoes zum Amazonas © picture alliance / dpa / Marcus Brandt
Von Frank Kaspar · 24.06.2014
Er drang in Urwälder vor, die kein Europäer vorher gesehen hatte, und betrat damit auch wissenschaftlich Neuland. Parallel zu Charles Darwin entwickelte Alfred Russel Wallace eine Theorie zur Entstehung der Arten. Auf einer Expedition an den Amazonas und den Rio Negro fand er erste Indizien dafür.
Alfred Russel Wallace ist fünfundzwanzig Jahre alt, gelernter Landvermesser und naturkundlicher Autodidakt, als er mit Henry Walter Bates im Frühjahr 1848 nach Südamerika reist. Die beiden jungen Männer sammeln Insekten, schießen im Auftrag eines Naturalienhändlers seltene Vögel und Vierbeiner. Aber Wallace verfolgt darüber hinaus ein eigenes Forschungsprogramm: Anhand von Naturbeobachtungen möchte er das Prinzip erkennen, "welches die unendlich vielfältigen Formen tierischen Lebens hervorbringt."
Anders als Charles Darwin, der während seiner Reise mit dem Forschungsschiff "Beagle" eher zufällig auf die Bausteine der später von ihm ausgearbeiteten Evolutionstheorie stieß, brach Wallace schon mit den richtigen Fragen auf: Er war bereits bei seiner Amazonas-Expedition ein "überzeugter Evolutionist auf der Suche nach weiteren Fakten", betont der Herausgeber Matthias Glaubrecht im Nachwort.
Naturbegeisterung und poetische Sprache
Das macht den besonderen Reiz dieses Reiseberichtes aus: Man kann dem Mitentdecker der Evolutionstheorie quasi live bei der Entwicklung seiner Ideen zusehen. Die Vielfalt der Tierwelt im brasilianischen Dschungel und die Besonderheiten ihrer geografischen Verbreitung geben ihm Hinweise auf die Veränderlichkeit der Arten.
Wallaces Bericht aus Brasilien verweist nicht nur auf die Evolutionstheorie und auf die von ihm begründete Disziplin der Biogeografie, sondern enthält auch zahlreiche Beobachtungen über das Leben der Amazonas-Indianer und die Aktivitäten der ersten europäischen Händler. Das Buch ist getragen von einer Naturbegeisterung, die in bildhafter, poetischer Sprache zum Ausdruck kommt. Wallace legt Dramatik in das Leben der Pflanzen und behält den Sinn für das Schöne auch in dramatischen Momenten, die er selbst durchlebt.
"Die Flammen erfassten bald die Wanten und Segel und boten einen herrlichen Anblick, als sie ganz bis zur Spitze hinaufleckten", mit diesem Bild nimmt er Abschied von Naturalien und Notizen, die er in vier Jahren zusammen getragen hat und auf der Heimreise durch den Brand des Schiffes verlor.
Abenteuerbericht und wissenschaftliche Quelle zugleich
Aus heutiger Sicht wirkt es seltsam, dass in den ausführlichen Naturschilderungen so wenig von Ökologie und Tierverhalten die Rede ist. Aber zu Wallaces Zeiten waren Forscher noch mit der Flinte unterwegs und legten wenig Wert darauf, lebende Tiere zu beobachten. Eine sensiblere Seite des Reisenden bezeugen Wallaces eigene Zeichnungen von Pflanzen, Städten und Landschaften.
Der von Michael Schickenberg behutsam in modernes Deutsch übertragene Band enthält ausführliche Anhänge zur Geografie, Flora und Fauna des Amazonas und zu Kultur und Sprachen der indigenen Völker. Wer nur auf einen Abenteuerbericht aus ist, findet in diesem Buch weit mehr Informationen als ihm lieb ist. Für natur- und wissenschaftshistorisch interessierte Leser ist es eine wunderbare Quelle, um Alfred Russel Wallace, der lange im Schatten des übergroßen Darwin stand, in seiner eigenen Stimme kennen zu lernen.

Alfred Russel Wallace: Abenteuer am Amazonas und am Rio Negro
Aus dem Englischen von Michael Schickenberg, herausgegeben und mit einem Nachwort von Matthias Glaubrecht
Galiani Verlag, Berlin 2014
619 Seiten, 24,99 Euro

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