Sachbuch

Die neue Kraft des individuellen Glaubens

Von Adolf Stock · 28.04.2014
Die großen Religionsgemeinschaften verlieren an Mitgliedern, dennoch gewinnt Religiösität immer mehr Raum. Viele Menschen wenden sich einfach radikaleren, fundamentalistischeren Gruppen wie den Evangelikalen zu. Wie trotzdem ein friedliches Miteinander der Religionen gelingen kann, beschreibt Friedrich Wilhelm Graf.
Im "Supermarkt der Religionen" gibt es viele Angebote, und ganz offensichtlich ist für jeden etwas dabei. Aber dieser Befund gilt nur, wenn man die Religionen von außen betrachtet. Für die Menschen selbst ist ihr Glaube ganz und gar nicht beliebig oder austauschbar. Im Gegenteil, viele von ihnen werden immer fundamentalistischer und beharren mit Eifer und Energie auf ihren religiösen Überzeugungen.
Friedrich Wilhelm Graf beschreibt in "Götter global" ein Paradox: Die Kraft der großen Religionen schwindet, aber die individuelle Glaubensstärke nimmt weltweit zu:
"Religionsmärkte funktionieren im engen Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Zwar sind in vielen europäischen Ländern die alten Monopolisten, die großen christlichen Kirchen, ( ... ) noch immer vielfältig privilegiert. Aber in zahlreichen asiatischen Ländern und vor allem in den USA sind die Religionsmärkte weithin dereguliert, offen. Überleben kann hier ( ... ) nur der Anbieter, der seine Sinnwaren erfolgreich an die Leute zu bringen vermag."
Evangelikale auf dem Vormarsch
In Lateinamerika verlassen die Menschen scharenweise die katholische Kirche und wenden sich den Evangelikalen zu. Auch in Afrika und Asien sind die Pfingstkirchen auf dem Vormarsch. Das, so der Autor, hat vor allem mit den sozialen Veränderungen in diesen Weltregionen zu tun.
Die charismatischen evangelikalen Gemeinden unterstützen die Tatkraft des Einzelnen, der soziale Aufstieg gilt ihnen als Beweis für ein gottgefälliges Leben. Der wachsende Wohlstand in den Schwellenländern arbeitet ihnen also zu.
Friedrich Wilhelm Graf beschreibt die globalen Veränderungen der Religionen klug und facettenreich. Ein zentrales Thema ist das Verhältnis von Religion und Politik. Ein kleiner Exkurs unterscheidet drei Umgangsweisen: Es gibt den "profanen Staat", der alles Religiöse von sich weist. Die Türkei Kemal Atatürks gilt als Paradebeispiel, aber auch Frankreich orientiert sich an diesem Muster. Doch diese Länder zahlen einen hohen Preis, weil sich die Gläubigen hier nicht angenommen und heimisch fühlen.
Das genaue Gegenteil ist der religiös geprägte Staat. Er schließt die Andersgläubigen und Ungläubigen tendenziell aus und produziert dadurch ernste Konflikte. Viele islamische Staaten organisieren sich so.
Dazwischen gibt es all jene Länder, die mehr oder weniger erfolgreich einen Konsens zwischen Religion und Politik suchen.
Kulturkampf der religiösen Fundamentalisten
Allerdings erweist sich der religiöse Fundamentalismus zunehmend als Problem. Nicht nur der anti-westliche Islam, auch orthodoxe Juden oder strenggläubige Evangelikale können fundamentalistisch sein. Zum Beispiel die Kreationisten: Sie bekämpfen erbittert die Evolutionstheorie, weil sie im Widerspruch zur biblischen Schöpfungsgeschichte stehe. Der Kulturkampf begann in den USA und wird mittlerweile weltweit geführt.
Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, die Welt zu betrachten. Entweder legt man Wert auf die Gemeinsamkeiten, oder man betont die Unterschiede. Friedrich Wilhelm Graf gehört entschieden zur zweiten Kategorie. Er differenziert genau und bleibt skeptisch, wenn einfache Lösungen angeboten werden. So misstraut er zum Bespiel der weltweiten Ökumene. Schon Anfang des letzten Jahrhunderts sollte eine Art religiöser Völkerbund entstehen. Nach dem Holocaust und der Nähe vieler Protestanten zu den Nationalsozialisten wurde die Idee in Deutschland sehr populär. Heute sind die Religionen in Deutschland um Verständigung bemüht.
Doch religiöse Überzeugungen taugen nicht für Kompromisse. Der Blick über den Tellerrand des eigenen Glaubens spricht eine unmissverständliche Sprache.
"Mord aus Glaubenshass, Dauerstreit um Kopftücher, Kirchenkampf um homosexuelle Priester. Blasphemie durch einen Burka-Comic, ein Papst der Armen als Fußballfan, die theologische Schwäche der EKD - all das gehört zur religiösen Signatur der Gegenwart."
Wie ist dem zu begegnen? Friedrich Wilhelm Grafs Ausblick ist nicht sehr optimistisch. Er glaubt, dass die religiösen Konflikte weiter zunehmen werden, weil sich immer mehr Akteure auf dem "Supermarkt der Religionen" tummeln würden. Und je mehr Angebote es gebe, umso komplizierter werde die Verständigung.
Als Ausweg müssten sich, so Graf, die Religionen selbst domestizieren, indem sie auf ihren Absolutheitsanspruch nach außen verzichten und andere Religionen neben sich gelten lassen. Dann wäre der Weg frei für ein friedliches Miteinander, oder sagen wir besser: ein Nebeneinander. Viel Hoffnung verbreitet Graf nicht. Doch sein Buch "Götter global" ist eine ernst zu nehmende Mahnung, weder in den Religionen noch in der Politik auf allzu schlichte Lösungen zu setzen.

Friedrich Wilhelm Graf: Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird
C. H. Beck, München 2014
284 Seiten, 16,95 Euro