Russland

Opfer einer Hetzjagd

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Michail Ryklin, Autor von "Mit dem Recht des Stärkeren" und "Buch über Anna" © dpa
Von Vera Block · 30.03.2014
Vor sechs Jahren verschwand in Berlin die russische Autorin und Videokünstlerin Anna Altschuk. Drei Wochen später wurde ihr Leichnam in der Spree gefunden. Von Mord war die Rede. Doch ihr Mann, der Philosoph Mikhail Ryklin, glaubt nicht mehr an die Mordthese und hat sich auf Spurensuche begeben.
Mikhail Ryklin scheint keine Zweifel mehr daran zu haben, dass seine Frau Selbstmord begangen hat. Aber er sucht nach Erklärungen und liefert mit dem “Buch über Anna“ einen Beleg für die These, die bereits in den 1970er-Jahren die linke Politik antrieb: Das Private ist politisch. Das Politische ist Privat.
“Wäre meine Frau nicht einer massiven Hetzjagd ausgesetzt gewesen, dann könnte sie heute – bei allen psychischen Problemen - noch leben.“
Es begann 2003 in Moskau mit einer Ausstellung mit dem Titel "Achtung! Religion!". Werke von zeitgenössischen Künstlerinnen aus Russland, den USA, Japan oder Georgien zeigten zum Beispiel eine Ikone mit herausgeschnittenem Gesicht, an dessen Stelle Besucher den eigenen Kopf durchstecken konnten. Ein weiteres Exponat: eine Tafel, die der amerikanischen Cola-Werbung nachempfunden war, zeigte Jesus Christus und die Worte “Das ist mein Blut“. Nach gerade mal drei Tagen wurden die Ausstellungsräume von Mitgliedern einer russisch-orthodoxen Gemeinde gestürmt. Sie beschuldigten den Veranstalter der Gotteslästerung, beschmierten und zerstörten die Kunstwerke.
Zunächst wurden die Randalierer verhaftet, bald darauf jedoch freigelassen und mit Ehrenurkunden der Russisch-orthodoxen Kirche ausgezeichnet. Dafür wurde gegen den Leiter des Ausstellungsortes, eine Mitarbeiterin und eine der teilnehmenden Künstlerinnen, Anklage erhoben. Vorwurf: Entfachung von nationaler oder religiöser Feindschaft.
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© Cover von "Buch über Anna" (Bild: Suhrkamp)
Eine der Angeklagten war Anna Altschuk, russische Dichterin und Videokünstlerin. Ehefrau des Philosophen Mikhail Ryklin, Korrespondent der Kulturzeitschrift Lettre International und Leiter der Fakultät für Philosophische Anthropologie an der Moskauer Akademie der Wissenschaften.
Der Prozess dauerte mehrere Monate und wurde von Demonstrationen ultraorthodoxer Gläubiger begleitet, die im Gerichtsgebäude antisemitische und homophobe Parolen verbreiteten.
Am Ende wurde Anna Altschuk zwar freigesprochen. Ihr Mann Michail Ryklin hat das im Westen viel beachtete Buch "Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der 'gelenkten Demokratie'" geschrieben. Es wurde 2006 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.
Russische Delegation verweigert Applaus
Während der feierlichen Ehrung verweigerte die offizielle russische Delegation demonstrativ den Applaus. Das Gerichtsverfahren um “Achtung! Religion!“ machte die Verflechtung der russisch-orthodoxen Kirche mit dem russischen Staatsapparat deutlich.
Das "Buch über Anna" setzt einiges an Wissen über das letzte Jahrzehnt im kulturpolitischen Leben Russlands voraus. Über den Schauprozess um die Ausstellung "Achtung! Religion", in dem der Autor die Wurzel seiner persönlichen Tragödie sieht, erhält der Leser wenig Informationen. Sie sind ausgelagert in die letzten Kapitel, wo sich Anna Altschuks Notizen von der Anklagebank finden.
Im Hauptteil beschreibt Michail Ryklin pedantisch die ersten Tage nach dem Verschwinden seiner Frau in Berlin. Die Belagerung durch die Massenmedien. Der nüchterne Ton eines Wissenschaftlers täuscht nicht über den Verlustschmerz hinweg. Die Stimme des Erzählers verwebt sich mit den kursiv gekennzeichneten Tagebuch-Ausschnitten oder Zitaten seiner Frau. Es entsteht ein letzter Dialog und gewissermaßen ein mahnendes Duett über die Entwicklungstendenzen in der russischen Gesellschaft.
“In einem Land, in dem die Homophobie hochkocht, in dem das Gesetz ausschließlich die “Gefühle der Gläubigen“ schützt... kann mein Buch, wenn es nicht auf aggressive Ablehnung stößt, bestenfalls mit Verdrängung und Totschweigen rechnen.“
Verstörend erotische Putin-Fantasien
Eintrag für Eintrag durchforstet Michail Ryklin die Tagebücher seiner Frau, seziert ihre Notizen über die nächtlichen Träume und pflückt ihre Gedichte auseinander. Albträume nach der Ermordung Anna Politkowskajas oder gar verstörend erotische Putin-Fantasien – das Buch über Anna zeigt, welchen Einfluss die gesellschaftlichen Entwicklungen auf das Innenleben einer Künstlerin nehmen. Ryklin schildert kleine Veränderungen, die das Leben des Paares durch den Gerichtsprozess und als Reaktion auf die regressiven innenpolitischen Entwicklungen im Land genommen hat: Der Freundeskreis wurde kleiner, Verwandte distanzierten sich. Das Ehepaar denkt an Emigration, zumal Michail Ryklin oft Gastprofessuren im Ausland erhält.
“Ich habe beschlossen, aus Russland wegzugehen. ... Vor einigen Tagen wurde für mich offensichtlich – nicht vom Verstand her, logisch, sondern aus dem Bauch –, dass der Faschismus unausweichlich ist. Einen Teil der sozialen Landschaft hat er schon mit dunkelbraunen Flecken überzogen. Eine stinkende Flüssigkeit breitet sich zusehends immer mehr aus und kriecht in alle Ritzen und Öffnungen. Ich sehe, wie die Angst immer stärker die Handlungen unserer Freunde und Bekannten bestimmt."

Mikhail Ryklin: Buch über Anna
Suhrkamp, Berlin 2014
334 Seiten, 24,95 Euro - auch als e-book erhältlich

Das Buch über Anna zeigt das innere Zerwürfnis von Menschen, die für einen kurzen Moment während der Perestroika und der ersten Jelzin-Jahre ein Mehr an persönlichen Rechten und künstlerischen Freiheiten erlebten und nicht bereit waren, sie wieder aufzugeben.
“Das Land begann mit einer Stimme zu sprechen; die Opposition wurde an den Rand gedrängt; Rücksichtslosigkeit, Intoleranz und Feindseligkeit gegen jeden, der anders aussah, anders dachte, sich anders benahm, breiteten sich aus: Die Gesellschaft begann beängstigend rasch zu verrohen.“
In großen Teilen des Buches wechselt allerdings der Autor aus der Rolle des politischen Anklägers zum Geisteswissenschaftler, der in der klassischen Literatur, etwa bei Tolstoj, nach Parallelen zum Schicksal seiner Frau sucht. Er betreibt eine dezidierte Psychoanalyse der seelisch gestrauchelten Dichterin Anna Altschuk, durchleuchtet die unglückliche Mutter-Tochter Beziehung und analysiert mit beklemmender Offenheit das eigene Verhältnis. Ganz Philosoph forscht er auch in der Theorie des Suizides nach Erklärungen.
Doch viele Fragen bleiben offen, etwa nach der Bedeutung der vielen Fotografien, die Anna Altschuk in einer maskulin-androgynen Stilistik zeigen. Oder nach den anfänglichen Hinweisen auf verdächtig, gar bedrohlich wirkende Personen, die einmal erwähnt, sich im Erzählfluss verlieren.
"Vorsicht, Kunst!"
Was dem Buch über Anna aber gelingt, ist anhand einer persönlichen Tragödie das Bild einer Gesellschaft zu schaffen, in der Kirche und Staat immer näher zusammenrücken, bis es keinen Platz mehr gibt für intellektuelle oder künstlerische Andersartigkeit. Und das “Buch über Anna“ spannt anschaulich eine Brücke zwischen dem Prozess um die Ausstellung “Achtung! Religion!“ vor zehn Jahren und der gegenwärtigen Situation in Russland. Etwa dem Autodafé der Band Pussy Riot wegen des Punk-Gebets in der Moskauer Erlöser-Kathedrale.
Während Michail Ryklin an seinem “Buch über Anna“ schrieb, wurde in Russland an einer neuen Kinderschutz-Gesetzgebung gearbeitet. Die Behörden planen ein Kompendium von Richtlinien für Museen, etwa im Umgang mit Nacktheit, und Empfehlungen zum Schutz junger Menschen vor Gefahren in der zeitgenössischen Kunst herauszugeben. Bemerkenswerterweise erinnert der Werktitel an die zerstörte Ausstellung “Achtung! Religion!“. Und ist genauso deutlich: “Vorsicht! Kunst!“