"Rüttgers bedient fremdenfeindliche Ressentiments"

Vlad Georgescu im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 09.09.2009
Trotz der Entschuldigung des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers für Äußerungen über rumänische Arbeiter attackiert der Journalist Vlad Georgescu den CDU-Politiker scharf. Der Politologe Andreas Wüst hält es sogar für möglich, dass die Aussagen das Wahlverhalten von rumänischstämmigen Menschen beeinflussen könnte.
Matthias Hanselmann: Jürgen Rüttgers, seines Zeichens Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und CDU-Mitglied, hat für große Aufregung gesorgt, und zwar mit einer Äußerung zur Arbeitsmoral von Arbeitern im Nokia-Werk in Rumänien. Mit Blick auf den Wegzug des Nokia-Werkes von Bochum nach Rumänien sagte er bei öffentlichen Parteiveranstaltungen zum Beispiel Folgendes:

Jürgen Rüttgers: Bei dem Unterschied zu den Arbeitnehmern hier im Ruhrgebiet kommen die in Rumänien eben nicht morgens um sieben zur echten Schicht und bleiben bis zum Schluss da, sondern sie kommen und gehen, wann sie wollen, und wissen nicht, was sie tun.

Hanselmann: Sie kommen und gehen, wann sie wollen. Am vergangenen Freitag hatte sich Rüttgers für diese Äußerungen entschuldigt. Dennoch wird die Sache ein Nachspiel haben, denn die abfälligen Äußerungen beschäftigen inzwischen auch die Justiz.

Der in Bukarest geborene Autor und Journalist Vlad Georgescu hat nämlich jetzt Strafanzeige gegen Rüttgers gestellt und mehr: Er fordert alle Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland auf, bei der Bundestagswahl nicht CDU zu wählen. Warum, das sagt er uns jetzt selbst. Guten Tag, Herr Georgescu!

Vlad Georgescu: Guten Tag, ich grüße Sie!

Hanselmann: Zunächst: Was genauer werfen Sie Jürgen Rüttgers vor?

Georgescu: Herr Rüttgers bedient fremdenfeindliche Ressentiments und scheint Artikel 1 des Grundgesetzes nicht zu kennen. Darin steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dass Herr Rüttgers diese Aussage gemacht hat, lässt sich natürlich rein ökonomisch widerlegen, es gibt im Nokia-Werk in Jucu zwei Schichten, die gehen jeweils zwölf Stunden. Die Mitarbeiterinnen – es sind meistens Frauen – stehen elf Stunden am Band, werden mit dem Bus zur Arbeit gefahren, werden danach auch wieder abgeholt und verdienen 250 Euro im Monat.

Dass der Ministerpräsident eines Landes, der eigentlich in Bochum ein Nokia-Werk verspielt hat, möglicherweise dadurch, dass die Verträge des Landes Nordrhein-Westfalen nicht hart genug formuliert waren, um das Abwandern zu verhindern, diese Details nicht kennt, wäre eigentlich schlimm. Wenn er sie aber wirklich kennen sollte – wovon ich ausgehe –, dann hätte er eigentlich auch noch gelogen, dann hätte er eigentlich sehr gezielt sehr bewusst fremdenfeindliche und rassistische Aussagen gemacht.

Hanselmann: Nun haben Sie Strafanzeige gegen Rüttgers gestellt, was versprechen Sie sich davon?

Georgescu: Wir hoffen natürlich, dass die Strafanzeige auch wirklich zu weiteren rechtlichen Schritten führen wird. Wir haben mittlerweile einen sehr versierten Anwalt, der auf Strafrecht spezialisiert ist, der mich jetzt auch vertritt, damit das Ganze auch in der juristischen korrekten Gussform vonstatten geht.

Und wir hoffen natürlich, dass wir auf diese Weise die Öffentlichkeit drauf aufmerksam machen, dass Herr Rüttgers eigentlich auch dem Ansehen nicht nur des Landes Nordrhein-Westfalen, sondern auch dem Ansehen der Bundesrepublik im Ausland massiv schadet.

Hanselmann: Rüttgers hat sich, wie eben angemerkt, am Freitag entschuldigt. Sie bleiben aber bei Ihrer Anzeige?

Georgescu: Ja, natürlich, ich bleibe bei der Anzeige. Mir wäre jetzt eigentlich auch nicht bekannt, dass man in Deutschland jemand beleidigen kann und sich anschließend entschuldigt. Ich kann natürlich auch nicht einen Beamten beleidigen und hinterher sagen, es tut mir leid, war nicht so gemeint.

Herr Rüttgers hat das ja nicht nur einmal gesagt, es sind ja weitere Videos aufgetaucht, also es sind zumindest zwei dokumentierte Fälle, wo er nahezu fast wortgleich diesen Satz ausgesprochen hat, ebenfalls auf einer Wahlkampfveranstaltung. Dann kann man also daran zweifeln, ob Herr Rüttgers wirklich rein versehentlich im Eifer des Gefechts so was gesagt haben will.

Hanselmann: Also aus der Wiederholung schließen Sie, dass das Kalkül war?

Georgescu: Ich gehe sehr stark davon aus, dass das Kalkül ist. Es wäre schlimm, wenn Herr Rüttgers nicht wüsste, was er täte.
Hanselmann: Nun rufen Sie aus diesem Anlass zum Wahlboykott gegen Rüttgers’ Partei, also die CDU, auf. Warum tun Sie das? Die Äußerungen von Rüttgers waren ja nicht Parteilinie?

Georgescu: Das kann man möglicherweise auch anders sehen. Also Herr Rüttgers ist ja nicht irgendjemand in der Partei, der nichts zu sagen hat. Er ist zum einen Ministerpräsident eines sehr großen Landes, zum anderen ist er natürlich stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU.

Wenn er so was sagt, ist es öffentlich, und wenn er so was sagt, dann tut er das in seiner Funktion, die er innehat, und in den Funktionen, die er innehat. Andernfalls würde er das wahrscheinlich am Stammtisch erzählen oder zu Hause oder unter vier Augen mit seinem besten Freund, ich weiß es nicht. Das hat er aber nicht getan.

Und daher ist es natürlich eine Angelegenheit auch der CDU. Und deswegen ist mein Appell an die Emigranten in Deutschland, die so wie ich Bundesbürger sind, die auch zum Gemeinwohl beitragen, die ihre Steuern hier bezahlen und auch zum Aufbau dieses Landes beigetragen haben, diese Partei so lange wirklich zu boykottieren, bis sich die Kanzlerin dazu geäußert hat und Herrn Rüttgers aus der Partei ausgeschlossen hat.

Hanselmann: Danke an Vlad Georgescu, der Anzeige gegen Ministerpräsident Jürgen Rüttgers gestellt hat. – Jetzt bin ich verbunden mit dem Politikwissenschaftler Andreas Wüst von der Universität Mannheim. Er beschäftigt sich intensiv mit dem Wahlverhalten von Migrationsgruppen in Deutschland. Guten Tag, Herr Wüst!

Andreas Wüst: Schönen guten Tag!

Hanselmann: Erst einmal: Wie wichtig sind eigentlich Wähler aus Zuwandererfamilien für die Bundestagswahl, wie viele sind das?

Wüst: Das waren in der Vergangenheit immer weniger als fünf Prozent, aber die Gruppe ist in den letzten Jahren größer geworden. Wir können von insgesamt circa 4,1 Millionen Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund ausgehen, das sind rechnerisch etwa 6,6 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung in Deutschland.

Hanselmann: Wir haben eben über die Menschen mit rumänischem Hintergrund gesprochen, wie ist der Anteil, den sie ausmachen?

Wüst: Das ist keine ganz kleine Gruppe, weil Rumäniendeutsche in großer Zahl in den 70er- und 80er-Jahren nach Deutschland gekommen sind. Wenn wir die Aufteilung dieser 4,1 Millionen uns anschauen, dann sind immerhin 0,5 Millionen, also fast 500.000 mit rumänischem Hintergrund.

Hanselmann: Welches Wahlverhalten legen die gemeinhin an den Tag?

Wüst: In den früheren Untersuchungen hat sich gezeigt, dass eine sehr klare Präferenz für die Union vorhanden ist, aber auch eine durchaus überdurchschnittliche Präferenz für die Freie Demokratische Partei, also die FDP. Das unterscheidet sich ein bisschen insbesondere von Russlanddeutschen, die ja noch eine stärkere Tendenz zu den Unionsparteien zeigen. Und wenn man das sozusagen ergänzen will, ist mit dieser Präferenz für Schwarz-Gelb eine relativ starke Ablehnung von der SPD beziehungsweise auch allen linken Parteien verbunden.

Hanselmann: Nun haben wir uns gerade unterhalten über die Äußerungen von Jürgen Rüttgers zur Arbeitsmoral von Arbeitern im Nokia-Werk in Rumänien. Was glauben Sie, wird diese Äußerung die rumänischstämmigen Menschen beeinflussen in ihrem Wahlverhalten?

Wüst: Das kann man sicherlich nicht ausschließen, wobei man natürlich auch unterscheiden muss zum einen zwischen Rumäniendeutschen und Rumänen. Also Rüttgers hat ja auf die Rumänen abgehoben, also da gibt’s sicherlich unterschiedliche Selbstbilder und Wahrnehmungen. Die Frage ist, ob Rumäniendeutsche sich von diesem Vorwurf auch getroffen fühlen.

Und wenn aufgefordert wird, die Union nicht mehr zu wählen, aufgrund einer unterschwelligen Fremdenfeindlichkeit, vielleicht sogar expliziten Fremdenfeindlichkeit, die hier geäußert wurde, dann besteht allerdings bei den Rumäniendeutschen auch schon in der Vergangenheit die Alternative, zur FDP zu gehen. Also ich gehe nicht davon aus, dass es jetzt dadurch zu Lagerwechseln kommt. Also wir erleben ja einen starken lagerorientierten Wahlkampf im Moment, und ich denke eher, dass Veränderungen sich innerhalb des schwarz-gelben Lagers abspielen werden.

Hanselmann: Die größte Zuwanderergruppe mit einer langjährigen Tradition in Deutschland sind die Türken. Wie verhalten die sich eigentlich bei den Wahlen?

Wüst: Die verhalten sich sehr viel anders als Aussiedler beziehungsweise auch Rumäniendeutsche. Wir haben in allen Umfragen klare Präferenzen für linke Parteien gemessen, auch jüngere Untersuchungen kommen zu diesem Ergebnis.

Die Verteilung innerhalb der linken Parteien variiert immer so ein bisschen, aber auch in den neuen Untersuchungen kommen Union und FDP auf gerade mal knapp 20 Prozent in dieser Gruppe. Also die restlichen 80 Prozent wählen Parteien auf der politischen Linken und hier primär die Sozialdemokraten.

Hanselmann: Was meinen Sie abschließend: Glauben Sie, dass Herr Rüttgers mit seinen Äußerungen der CDU schadet, sie wieder in die Nähe von Ausländerfeindlichkeit rückt?

Wüst: Ausländerfeindlichkeit beziehungsweise auch die Tendenz, bestimmte Gruppen auszugrenzen, hat ja in der Union eine lange Tradition. Denken Sie an Edmund Stoiber zurück, 1991, an die durchmischte und durchrasste Gesellschaft. Denken Sie an Roland Koch mit seiner Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, allerdings dann auch mit dem Scheitern bei der vorletzten Hessen-Wahl mit einer Kampagne gegen ausländische Jugendliche, die dann einherging, eigentlich parallel lief zu Initiativen von Frau Merkel und Herrn Schäuble, die versucht haben, über den Integrationsgipfel und die Islamkonferenz hier sich deutlich zu öffnen für gerade muslimische Gruppen in der deutschen Gesellschaft.

Und durch diese Äußerungen Rüttgers’ werden natürlich diese Entwicklungen der Union hin zu, eine offenere Partei zu sein, keine Partei, die sich nur auf die deutsche Staatsbürgerschaft und deutschen Traditionen und ja, Kritiker mögen sagen, auf das deutsche Blut begrenzt, da hat Rüttgers natürlich der Kanzlerin und der CDU einen Bärendienst erwiesen. Ich dachte eigentlich, dass das in der CDU vorbei ist, aber die Realität straft mich da Lügen sozusagen.

Hanselmann: Vielen Dank. Andreas Wüst war das, Politikwissenschaftler von der Universität Mannheim. Dankeschön, Herr Wüst!

Wüst: Ja, sehr gerne!