Rückkehr nach Finnland

30.10.2008
In "Die Bezauberin" wird ein in seine finnische Heimat zurückkehrender Mann mit einer alten Liebe konfrontiert. Er begegnet auch einer jungen Frau, die verwildert im Wald lebt und deren Geschichte er zu ergründen versucht. Die finnische, in Köln lebende Musikerin Ghita Gothóni hat mit diesem berührenden Roman mit 56 Jahren ihr literarisches Debüt gegeben.
Es geht um die Macht der Gefühle und der Intuition oder kurz um die Liebe - die Liebe, die Berge versetzen kann, aber auch zerstörerisch ist, und um die Liebe, die blind oder hellsichtig macht.

Erik Sandell folgt einer nächtlichen Eingebung und mietet eine Hütte in seiner finnischen Heimat, die er vor Jahren verlassen und nie wieder besucht hat. Kaum angekommen, erfährt Erik, dass er sich in unmittelbarer Nähe des Gutshauses seines Freundes Kari aufhält. Schon sitzt er bei Kari und dessen Ehefrau Hanna zum Abendessen und spürt, dass er seinem Schicksal nicht davonlaufen kann.

Erik hatte Finnland Hals über Kopf verlassen, nachdem seine Geliebte Hanna ihm mitgeteilt hatte, dass sie einen anderen Mann, nämlich seinen Freund Kari heiraten werde. Die "seelische Atemnot", die ihn damals befiel, ist noch nicht vorüber. Während Erik noch mit seinem Gefühlschaos beschäftigt ist, tritt kaum wahrnehmbar Liisa ins Bild. Die junge Frau lebt verwildert im Wald und wird von den Dorfbewohnern als geistig zurückgeblieben und stumm dargestellt. Doch schon bei ihrer ersten Begegnung im Wald beginnt Liisa mit Erik zu sprechen. Er fühlt sich seltsam berührt, möchte Liisa beschützen und mehr über sie erfahren, aber sie entzieht sich ihm immer wieder.

Bei seinen suchenden Streifzügen durch den Wald findet Erik Liisa in einer Felsspalte hängend. Ist sie heruntergestoßen worden oder hat sie sich selber heruntergestürzt? Was ist ihr geschehen? Plötzlich sieht sich Erik der Tatsache gegenüber, dass die Dorfbewohner ihn der Vergewaltigung von Liisa verdächtigen.

Kommissar Mäntylä beginnt zu ermitteln, hat aber auch mehr Fragen als Antworten. Nach anfänglicher Abneigung beginnen sich der Kommissar und Erik anzunähern und immer weiter in das Geheimnis von Liisas Leben einzudringen. Die beiden Männer ergänzen sich in der Suche nach der Wahrheit.

Während Erik seinen Gefühlen folgt, die sich längst in eine tiefe Liebe für Liisa gewandelt haben, sucht der Kommissar die Puzzlestückchen von Liisas Vergangenheit zusammen. Dass beide Wege nicht gradlinig verlaufen und die Geschichte immer wieder überraschende Wendungen nimmt, macht den Reiz dieses Romans aus.

Die Autorin entwickelt eine atmosphärisch dichte Prosa, die einen eigentümlichen Sog ausübt. Licht und Schatten der finnischen Wälder und Seen schaffen eine rätselhafte Stimmung, die die Geschichte unwirklich erscheinen lässt. Und doch entsteht in schönen scharfkantigen Bildern nach und nach eine Familientragödie, die über Generationen das Leben vieler Menschen beeinflusst und erst mit ihrer Enthüllung die Chance auf eine Veränderung zulässt.

Ghita Gothóni ist es gelungen, ihre durchkomponierte Ästhetik der Spielarten der Liebe ohne Kitsch oder Sentimentalität darzustellen und damit einen berührenden Roman zu schreiben. Dies ist umso bemerkenswerter, als sie nicht in ihrer Muttersprache sondern in Deutsch geschrieben hat.

"Die Bezauberin" ist das Debüt der 56-Jährigen, die aus einer bekannten Musikerfamilie Finnlands stammt. Als Kind spielte sie Geige, wechselte später zum Gesang und studierte an der Sibelius Akademie. Ghita Gothóni konzertierte in Finnland, Ungarn und Deutschland und erhielt ein Jahresstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Frankfurt. Seit 1990 lebt sie in Köln und tritt mit Eigenkompositionen für Klavier und Stimme auf Kleinkunstbühnen auf.

Rezensiert von Birgit Koß

Ghita Gothóni, Die Bezauberin, Roman,
Dietrich Verlag, Berlin, 2008,
328 Seiten, 19,80 Euro