Rückblick in eine dunkle Kindheit

10.10.2011
In dem Roman "Der bemalte Vogel" berichtet der polnisch-jüdische Schriftsteller Jerzy Kosinski über seine Kindheit während des Holocaust. Seine Erinnerungen geben Einblick in eine Welt von unvorstellbarer Gewalt, Grausamkeit und Unmenschlichkeit.
Nach dem Überfall der Deutschen auf Polen im Jahre 1939 wird ein sechsjähriger Junge aus behütetem jüdischen Hause von seinen vorausschauend verzweifelten Eltern aufs Land geschickt in der Hoffnung, er könne dort überleben.

Und es beginnt eine unvorstellbare Odyssee der Gewalt und Grausamkeit, der Unmenschlichkeit und Perversionen. Der Junge hat schwarze Haare, schwarze Augen und olivfarbene Haut. Als Zigeunervampir oder Judenfindling beschimpfen ihn die Bauern und ihre Frauen. Die Kinder verfolgen ihn, verprügeln ihn, bewerfen ihn unter zustimmendem Gejohle der Alten mit Steinen.

Wenn der Brotteig beim Kneten säuert, die Kuh stirbt, der Habicht die Hühner holt - schuld ist immer der kleine Junge wegen seines bösen Blicks. Weder einem Menschen noch einem Tier darf er in die Augen schauen, damit die Pestilenz sie nicht befalle. Nachdem seine erste Wirtin gestorben ist, muss er fliehen. Und bleibt auf der Flucht.

Vegetiert in Wäldern, sucht immer wieder Unterschlupf bei Bauern. Er wird geschlagen, eingesperrt, unter Eisschollen gestochert, damit er ersaufe, wird von mörderischen Menschen und Hunden gehetzt. Und ist nicht nur Opfer von Gewalt, sondern auch Zeuge von brutalster und primitivster Ruchlosigkeit in der bäuerlichen Gesellschaft. In Polen war das Buch wegen antipolnischer Ressentiments lange verboten.

Jerzy Kosinski, der diesen entsetzenden Roman geschrieben hat, erzählt darin nach eigenen Angaben seine Lebensgeschichte. 1965 erschien es zum ersten Mal in New York – und wurde unter anderem von Elie Wiesel und Arthur Miller als Meisterwerk gepriesen. Jetzt hat der Arche Verlag den Roman neu herausgebracht. Und er erschüttert wie damals. In seiner brennenden Prosa, seiner rückhaltlosen Darstellung der Gräuel.

Immer wieder ist Kosinski vorgeworfen worden, er habe keine Autobiografie geschrieben, sondern eine sadistische Monstrosität nach der anderen erzählt, habe sich auf Sekundärliteratur gestützt, habe, in anderen Worten, gelogen. In Wirklichkeit habe er die Schoah mit arischen Papieren und gemeinsam mit seinen Eltern und auch mit Hilfe von Polen überlebt.

Tatsächlich ist es aber wohl für die Beurteilung des Romans nicht entscheidend, ob er alles selber erlebte. Entscheidend ist vielmehr, dass alles genau so erlebbar gewesen wäre. Louis Begley zitiert in seinem klugen Vorwort Colin Toibin, der gesagt hat, Romane seien "Bündel von Lügen, die auch Metaphern sind." Und in der Tat ist dieses Buch von Jerzy Kosinski die große Metapher für die menschliche Barbarisierung zu Zeiten der Schoah.

Als der Knabe einmal in der Kirche als Messdiener aushelfen soll und - geschwächt von Prügeln, nässenden Wunden, Hunger und Angst - das Messbuch fallen lässt, wird er gepackt und in die Jauchegrube geschleudert. Wieder einmal kann er sich retten. Hat allerdings seine Stimme verloren. Und beschließt, sich ab sofort mit dem Bösen zu verbünden. Denn offenbar ist es stärker als Gott, Kirche und Priester. Der Roman erzählt auch von der wachsenden Rohheit, der moralischen Verwahrlosung des Knaben.

Jerzy Kosinski hat - wie Primo Levi oder Jean Amery - das Überleben nicht überlebt und 1991 in New York Selbstmord begangen.

Besprochen von Gabriele von Arnim

Jerzy Kosinski: Der bemalte Vogel
Roman. Aus dem Amerikanischen von Herbert Roch.
Arche Paradies, Hamburg 2011
350 Seiten, 19,90 Euro