Rückbesinnung auf den Sozialismus

12.09.2012
Die Stimmung in der Gesellschaft spricht Bände: Nachhaltigkeit statt Wachstum, Verteilungsgerechtigkeit statt Profitmaximierung treiben die Menschen um. Der Marxist Wolfgang Fritz Haug sieht die Finanzkrise deshalb auch als Chance.
"Wenn Krisen eine Chance darstellen, so umgekehrt die nicht genutzte Chance eine Krisenquelle" - so schließt, zuversichtlich, die neue Studie des unorthodoxen Marxisten W. F. Haug. Objektiv seien die Potenziale (und Produktivkräfte) zur Überwindung des absurden, unmenschlichen und katastrophenträchtigen Kapitalismus schon allerorten sichtbar - nun müssten sie nur noch ins subjektive Bewusstsein der Betroffenen sickern. Alle neoliberalen Glaubenssätze seien durch die jüngsten Entwicklungen als Propaganda entlarvt, ihr Anspruch auf Nutzen und Effizienz sei widerlegt: Wachstumsideologie, die Rationalität des Marktes, der Fetisch der Privatisierung sozialer, ja hoheitlicher Aufgaben, der Primat der Wirtschaft über die Politik, die doch nur eine Aufgabe habe: die Sicherung der Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Markt. Der globale High-Tech-Kapitalismus entziehe endlich Produktion, Arbeitsverhältnisse und Besteuerung jeder staatlichen Kontrolle.

Ein ganzer Diskursteppich wird hier ausgebreitet und in Teilen neu gewebt - die Verknüpfung scheinbar gänzlich unverbundener Aspekte der Gesellschaftsordnung ist Haugs eigentliche Stärke; er kennt sich in der Wirtschaftstheorie aus, wie seine fast zwanzigseitige, eng gedruckte Literaturliste bezeugt. Die zwei Hauptteile des Buchs, die Finanzkrise und die Hegemoniekrise, die Krise der Jahrzehnte lang dominierenden neoliberalen Theorien, stecken den Begriffsrahmen ab.

Als Herausgeber der Schriften Gramscis hat Haug dessen - wirtschaftsanalytisch wie sozialpsychologisch nützlichen und fruchtbaren - Begriff "Hegemonie" über die Nachwende-Jahrzehnte gerettet. Der nämlich gestattet das Zusammendenken der Wirtschaftskrise mit sozialen Wertvorstellungen, die wir längst als natürlich verinnerlicht haben und blind durch unser Verhalten, ja in unseren Gefühlen reproduzieren. Und das, obwohl die Stimmung weltweit umzuschlagen scheint, sich allerorten schon Gegenbewegungen, ja Gegenideologien formieren: Nachhaltigkeit statt Wachstum, Verteilungsgerechtigkeit statt Profitmaximierung, Grundeinkommen statt Erpressbarkeit durch den Arbeitsmarkt, demokratiekonformer Markt statt jener marktkonformen Demokratie, die unsere Kanzlerin predigt.

Haug warnt ausdrücklich, die Bedrohung zu personalisieren: Die "Skandalisierung konnte leicht in die Personalisierung rutschen, 'diese Abzocker' für Krise und Misere verantwortlich zu machen, statt die Strukturfrage zu stellen". Quasi spiegelbildlich aber lasse "der Wandel der Produktionsweise durch die 'Neuen Technologien' (...) auch ein neues Anforderungsprofil an die Fähigkeiten, Eigenschaften und Haltungen des 'idealen' Lohnabhängigen entstehen. Statt Fleiß, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit gewinnen Tugenden wie Flexibilität, Lernbereitschaft, Kreativität, etc. an Bedeutung", hieß es im Vorgängerbuch. Die Krise ist also eine der ganzen Kultur, ihrer Wertvorstellungen, ihrer Charakterideale, ihrer Utopien. So alternativlos sei das kulturelle Paradigma also nicht, als dass sich in seinen Brüchen nicht neue Vorstellungen entfalten könnten: die Krise als Chance.

Besprochen von Eike Gebhardt

Wolfgang Fritz Haug: Hightech-Kapitalismus in der großen Krise
Argument, Berlin, 2012
366 Seiten, 19,50 Euro
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