Roman

Kurzweilige Weitschweifigkeit

Ein mit Holzmöbeln eingerichtetes Wohnzimmer.
Ein Antiquariat wird zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. © picture alliance / ZB / Patrick Pleul
Von Irene Binal · 25.03.2014
Ein Junge, der seine Mutter verloren hat, steht im Zentrum von Donna Tartts 1000-seitigem Roman. Die Autorin schafft bemerkenswert plastische Figuren und wirft einen kritischen Blick auf die New Yorker High Society.
Eigentlich lässt sich der Inhalt von Donna Tartts Roman in einem Satz zusammenfassen: Bei einer Explosion in einem Museum verliert ein Junge seine Mutter und eignet sich im Chaos ein Gemälde an, welches ihn jahrelang begleitet. Aus diesem überschaubaren Plot hat die US-Autorin einen 1000-Seiten-Roman gestrickt, der trotz einiger Schwächen mit vielen Stärken aufwartet.
Theo Decker ist 13, als ihn seine Mutter in ein New Yorker Museum mitnimmt, und vor allem das Gemälde "Der Distelfink" von Carel Fabritius hat es ihm angetan. Dann explodiert plötzlich eine Bombe, Theo bleibt wie durch ein Wunder unverletzt, und als er das Bild in den Trümmern unbeschädigt vor sich liegen sieht, nimmt er es heimlich mit. Es wird ihn durch seine Adoleszenz begleiten, eine Adoleszenz, die von der Trauer um seine Mutter geprägt ist.
Eine Meisterin des Dahinerzählens
Theo findet Unterschlupf bei der wohlhabenden Familie seines Freundes Andy, er trifft den Antiquitätenhändler James Hobart, genannt Hobie, und das Mädchen Pippa, in das er sich sofort verliebt; er zieht mit seinem Vater nach Las Vegas, freundet sich mit dem undurchsichtigen Boris an, geht später wieder nach New York zurück, wird Hobies Partner und bedient sich zweifelhafter Methoden, um den Laden in Schwung zu bringen. Das Gemälde nimmt er immer mit, geplagt von Schuldgefühlen aber gleichzeitig außerstande, sich davon zu trennen. Bis er schließlich mit der Kunstraubszene in Berührung kommt und selbst zum Betrogenen wird.
All das ließe sich bequem auf ein paar Hundert Seiten erzählen, aber Donna Tartt liebt die Weitschweifigkeit, die gleichzeitig Stärke und Schwäche ihres Romans ist. Wohl passiert über lange Strecken nichts Wesentliches, aber Tartt ist eine Meisterin des Dahinerzählens und dabei wirft sie einen kritischen Blick auf die New Yorker High Society, befasst sich ausführlich mit der Kunst des Möbelrestaurierens und Theos Bekanntschaft mit verschiedenen Drogen und zeichnet ihre Figuren bemerkenswert plastisch - Boris etwa, den polnischen Ukrainer, der in Indonesien leben möchte und sich mit der Frage nach der Bedeutung des Wortes "Propinquität" herumschlägt. Oder Hobie, den gutmütigen und weltfremden Möbelliebhaber, dessen selbstgebaute Stücke Theo unverfroren als Antiquitäten verkauft. Auch Theo selbst ist eine ambivalente Figur, die als Erzähler nicht immer ganz vertrauenswürdig, aber gerade darum umso nachvollziehbarer wird.
Wunderbar müde Poesie
Vor allem Donna Tartts Stil bewahrt den Roman davor, eintönig zu werden. Ihre Sätze atmen oft eine wunderbar müde Poesie ("Ungewissheiten, die am Rand einer unermesslichen Helligkeit schwebten. Die vereinzelte Möglichkeit, die alles verändern könnte oder auch nicht.") und entwickeln einen vom Plot unabhängigen Sog. Es ist kein Roman, der mit Spannung oder Action glänzt, aber seine Stärke liegt darin, mit feiner Feder ein Gesellschaftsbild zu entwerfen und dabei mit kurzweiliger Weitschweifigkeit zu glänzen.

Donna Tartt: Der Distelfink
Deutsch von Rainer Schmidt und Kristian Lutze
Goldmann-Verlag, München 2014
1024 Seiten, 24,99 Euro

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