Revolution mit Apfelschuss

Von Bernhard Doppler · 11.08.2013
Die italienische Stadt Pesaro ist "Rossinis Bayreuth" und bleibt auch in diesem Sommer das Zentrum der Pflege seiner Musik - zumindest in einfallsreichen Inszenierungen wie "Guillaume Tell", einem Historienspektakel zwischen Idylle, Schwermut und aufbrausender Gewalt.
Auf dem Vorhang bereits unmissverständlich: eine geballte weiße Faust vor rotem Hintergrund. Der Befreiungskampf der Schweizer wird in der Inszenierung von Graham Vick in Pesaros überdachter Sportarena als großes Revolutions-Epos gezeigt. In der Ausstattung von Paul Brown spielt "Guillaume Tell" dabei nicht im Schweizer Mittelalter, sondern wohl in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ein Vergleich drängt sich dabei immer wieder auf: das große Leinwand-Epos von Bernardo Bertolucci "1900" (Novecento). Aber auch Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin" scheint zitiert: Aufstand und Partisanentätigkeit, Vereinigung zur gemeinsamen politischen Aktion ("Rütlischwur"), brutale Gegenmaßnahmen der "faschistischen" Besatzer und ihre Orgien. Was sind Hutbegrüßung und Apfelschuss anderes als eine sadistische Orgie: Gesslers Nötigung zur Belustigung der Gesellschaft, den Vater auf einen Apfel am Kopf des eigenen Sohns zu schießen, scheint seine Parallelen in Pasolinis "Letzten Tage von Salo" zu haben.

Die Chöre, die Geschichte des Volkes steht bei Rossini im Mittelpunkt, doch verknüpft damit, wenn auch untergeordnet, private Schicksale, die Familie Tell: Vater, Mutter und Sohn, oder die Geschichte des Schweizers Arnold, der die habsburgische Prinzessin Mathilde liebt, der sich aber nach der Ermordung seines Vaters doch ganz in die revolutionäre Bewegung einordnet.

So detailverliebt diese Geschichte von Graham Vick erzählt wird, so einfallsreich mit groteskem Humor die Choreografien (Ron Howell) sind, der Hauptakzent der Aufführung liegt dennoch bei der Musik. Mit nie nachlassender Spannung führt der junge Dirigent Michele Mariotti das Orchester des Teatro Comunale Bologna durch den langen Abend, immer wieder den Hörer zwischen Idylle, Schwermut und plötzlich aufbrausender Gewalt hin und her gerissen. Großartig!

Dazu hat man in Pesaro wieder ein Sängerensemble gefunden, das auch in kleineren Rollen überzeugt, nicht nur der - auch schauspielerisch überzeugende - Pesaro-Star Juan Diego Flórez als Arnold, der natürlich besonders, aber auch Nicola Alaimo als kräftiger, nachdenklicher Tell, sehr beeindruckend Amanda Forsythe als sein Sohn; Veronica Simeoni besticht als Frau Tell durch ihren klar strahlenden Sopran. Das gilt etwas weniger für Marina Rebeka, die als Mathilde durch nicht ganz angebrachte Lautstärke sogar ihren Partner Florez übertrumpfen wollte. Rossinis grand opera 2013 in Pesaro als Historienspektakel über eine Revolution ist fast eine Neuentdeckung.

Vordergründige Heiterkeit bei der "Italienierin in Algier"
Für den Eröffnungsabend, die oft gespielte "Italienerin in Algier" gilt das weniger. Verglichen mit dem Dirigenten Michele Mariotti agierte das Orchester des Teatro Comunale Bologna unter José Ramón Encicar viel weniger pointiert, fast ein wenig müde. Zwar imponierten die Sänger durchaus: Alex Esposito als Mustafa, Mario Cassi als Tadeo und vor allem als Neuentdeckung die Titelrolle: Anna Goryachova als Italienerin - doch musikalisch konnte der Abend nicht gegen die überaktive, von vordergründige Heiterkeit überbordende Inszenierung von Davide Livermoore aufkommen: eine Art nie zur Ruhe kommender Videoclip, der den immer witzig sein müssenden Figuren keinen Spielraum zur Entwicklung ihrer Charaktere ließ.

Comics mit ihren Sprechblasen – teils tatsächlich auch als Videoeinspielungen – bestimmen die Ästhetik der Bühne (Nicolas Bovey, Kostüme Gianluca Falaschi). Die kluge Italienerin Isabella als Karatekämpferin kämpfen zu lassen, mag noch einleuchten, die von Livermoore hinzu erfundene alte dicke schrullige Frau oder zwei Anweisungen vollführende Flugbegleiterinnen wie auch einige Aktualisierungen (Ölfödertürme in Algerien) ermüdeten eher, als dass sie zum Lachen anregten.

Musikalisch auf hohem Niveau und in den Inszenierungen zumindest einfallsreich (im Fall von "Guillaume Tell" wohl auch exemplarisch), bleibt Pesaro auch 2013 das Zentrum der Rossini-Pflege, Rossinis "Bayreuth".


Informationen des Rossini Opera Festival Pesaro
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