René Pollesch an der Volksbühne

Wie viel Angst verträgt eine Gesellschaft?

Volksbühne in Berlin
Volksbühne in Berlin © imago/STPP
Von Eva Behrendt · 04.05.2016
René Pollesch lässt vier Schauspieler über Political Correctness, über Freiheit und Konflikte philosophieren. Oder eher banalisieren. Die Böhmermann-Affäre steht Pate für "I love you, but I've chosen Entdramatisierung". Ein aufreizend provokanter und zugleich harmloser Abend an der Berliner Volksbühne.
Die vier jungen Leute in ihren Sommerkleidchen und Ringel-T-Shirts sehen gar nicht so aus, als hätten sie irgendeinen Grund, sich wüste Beschimpfungen an den Kopf zu knallen. Eher wie adrette Bürgerkinder aus einem Truffaut-Film, die gerade mit einem Baguette unterm Arm zum Picknick aufs Land fahren. Doch schon in ihrer zweiten Replik in René Polleschs "I love you but I've chosen Entdramatisierung" hat die Schauspielerin Kathrin Angerer eine Idee: Es müsste ein Gesetz her, das zur gegenseitigen Beleidigung verpflichtet, "um Spannungen abzubauen und den sozialen Frieden wieder herzustellen". Wie in Burkina Faso, pflichtet Kollege Trystan Pütter bei, dort stabilisiere die kulturelle Praxis des virtuosen Einander-Beschimpfens eine multiethnische Gesellschaft.
Wir sind in der Volksbühne, wo Lenore Blievernicht und Nina Peller drei einst für die "Rollende Roadshow" umgebaute Bauwagen längs in den bis zum Sternenfoyer verlängerten Bühnenraum gestellt und die Zuschauer auf Sitzsäcke und weiße Plastestühle davorgesetzt hat. Ein bisschen fühlt es sich an wie vor 15 Jahren in der Nebenspielstätte Prater, als Pollesch gerade anfing, mit "Stadt als Beute" ein junges, Kunst- und Theorieaffines Mitte-Publikum für sich einzunehmen: Man saß sehr nah dran an den Schauspielern, die Gegenwart in Gestalt des 11. Septembers war gerade in den Text eingebrochen, in den Sprechpausen wurde zu mittelguten Popsongs trashig herumgehüpft.

Eng an der Gegenwart entlanggeschrieben

Ganz anders als in den letzten Jahren, wo Pollesch und der letztes Jahr gestorbene Bühnenbildner Bert Neumann seine philosophischen Theateressays in guckkastenkompatible Großkunst verwandelten, mit tanzenden Chören, theaterhistorisch aufgeladenen Requisiten und Kompositionen deutscher Indiepopgrößen wie Dirk von Lowtzow.
Jetzt hat Pollesch mal wieder besonders eng an der Gegenwart entlanggeschrieben: Die Böhmermann-Affäre steht, ohne eigens erwähnt zu werden, Pate für "I love you but I've chosen Entdramatisierung" (der streng dialektische Titel variiert den Namen der Indierockband "I love you but I've chosen darkness"). Es geht um Nutzen und Nachteil der political correctness, die Konflikte auch verdeckt oder ihnen ausweicht, um die Frage, wie viel Freiheit, aber auch wie viel Angst eine Gesellschaft verträgt.
Inga Busch, Trystan Pütter, Samuel Schneider und die herrlich blasiert nölige Kathi Angerer verhandeln und variieren diese Fragen passenderweise, während Joints und eine Bong kreisen wie in Tamra Davis' zitiertem Film "Half Baked". Aber ist Marie Johanna, sprich: Marihuana, nicht die perfekte Konfliktvermeidungsdroge?

Die Chance, Gewalt abzubilden ohne sie zu billigen

So, wie sich der Titel des neuen Stücks selbst widerspricht, inszeniert Pollesch an diesem Abend auch gegen die steile These seines Textes: Wenn sich die Schauspieler doch mal als "Hohlbirne" bezeichnen, schieben sie gleich ein "Entschuldigung Liebling, so war das nicht gemeint" hinterher. Statt sich zu schlagen, knuffen sie sich zärtlich in die Seite. Schlimmstenfalls ziehen sie sich noch mal um, tauschen Bürgeroutfits gegen Ballonseide.
So genau will hier natürlich auch keiner wissen, was los wäre, wenn Konflikte real eskalierten. Aber welche sollten das im kulturell homogenen Berlin-Mitte-Milieu auch sein? Pollesch weiß, was er tut: Dass die Kunst auch die Chance hat, Gewalt abzubilden ohne sie deshalb zu billigen, wird immerhin flüchtig zur Diskussion gestellt. Er selbst entscheidet sich aber doch lieber dafür, "die Tragik (zu) banalisieren und zur Komödie (zu) verwandeln".
Genau das ist die vorläufige kleine Lösung, die Polleschs Theater vorschlägt: aufreizend provokant und zugleich völlig harmlos zu sein, dabei aber intelligente Unterhaltung.
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