Regisseur Bent Hamer

"Menschen brauchen immer Fixpunkte"

2010 wurde der norwegische Regisseur Bent Hamer beim Festival Internacional de Cine de Donostia-San Sebastián ausgezeichnet.
2010 wurde der norwegische Regisseur Bent Hamer beim "Festival Internacional de Cine de Donostia-San Sebastián" ausgezeichnet. © picture alliance / dpa / EPA / Javier Etxezarreta
Moderation: Susanne Burg · 20.12.2014
Bent Hamers Film "1001 Gramm" erzählt von der Schwere des Seins. Im Gespräch erklärt der norwegische Regisseur, warum es so schwer ist, ein Kilo darzustellen - und warum Menschen Anhaltspunkte und Maßeinheiten brauchen.
Susanne Burg: Bent Hamer, wir müssen eingangs über Gewichte sprechen. Wir Normalbürger gehen immer davon aus, dass ein Kilo ein Kilo ist. Sie zeigen im Film, dass das nicht selbstverständlich ist. Erklären Sie uns: Was ist die Herausforderung, was ist das Problem?
Bent Hamer: Die Definition für ein Kilo, die ist soweit in Ordnung, aber wie soll man ein Kilo darstellen oder es ausdrücken? Es gibt sieben Konstanten, und das Kilo war sozusagen der letzte physikalische Standard, aber man kann ihn eben so schlecht ausdrücken. Und 1889 hat man folgendes Experiment gemacht: Man hat einerseits 40 Kilos, andererseits 40 Meter versucht darzustellen durch Platin-Iridium. Und während man Platin-Iridium relativ akkurat darstellen kann, hat man bei Kilos wirklich ein Problem.
Wenn man zum Beispiel Ein-Meter-Radiowellen versucht, in einem Vakuum mit Platin-Iridium darzustellen, dann wird das relativ akkurat. Aber beim Kilo ist es nun mal nicht akkurat. Es gibt jetzt ein neues Projekt, das nennt sich das "Avogadro-Projekt", das ist hoch kompliziert. Man hat versucht, ein Metall zu entwickeln, mit dem man dann auch ein Kilo ausdrücken kann. Und da werden Atome gezählt, und es ist auch unglaublich teuer, und akkurat ist es, ehrlich gesagt, immer noch nicht.
Burg: Ich wollte nämlich gerade fragen, hat man jetzt die Lösung gefunden?
Hamer: Das Problem ist, ehrlich gesagt, immer noch nicht gelöst. Seitdem ich an diesem Projekt arbeite, sagen die mir jedes Jahr, man wird sich endgültig dazu entscheiden, dieses Avogadro-Projekt zu nehmen und die Atome zu zählen, aber es ist immer noch nicht geschehen.
"Wir brauchen Anhaltspunkte, Einheiten, Maßeinheiten"
Burg: Nun könnte man aus einem solchen Thema ja auch wirklich einen spannenden Dokumentarfilm machen. Was hat Sie daran interessiert, daraus einen Spielfilm zu entwickeln?
Hamer: Das ist sicher zunächst erst einmal ein sehr trockenes Thema, aber wenn man sich da hinein kniet, dann kann es ganz interessant werden. Ich denke, wir brauchen im Leben als Menschen immer irgendwelche Fixpunkte. Wir haben Angst vor dem Tod; wir können uns unter Ewigkeit nichts vorstellen. Wir brauchen Anhaltspunkte, wir brauchen Einheiten, Maßeinheiten. Und hier in meinem Film, die weibliche Hauptfigur arbeitet im Institut für Maßeinheiten und Gewichte in Norwegen.
Das gibt es im Übrigen auch in Deutschland, in Braunschweig haben Sie hier auch so eins. Und diese Frau lebt in einer freudlosen Ehe, in der nichts mehr passiert. Sie hat kaum ein Sozialleben. Das einzige, was sie noch hat, ist ihr Vater. Und trotzdem glaube ich, dass sie am Ende Ja zum Leben sagt, dass es doch ein lebensbejahender Film ist, und dass sie ihr Leben sozusagen auf die Waage wirft.
Burg: Sie sagen, es geht darum, Ja zum Leben zu sagen. Hat sie denn vorher nicht Ja zum Leben gesagt in ihrer Welt, die nur aus Gewichtseinheiten, Maßeinheiten bestand, und erst, als dann ja ein Mann in ihr Leben tritt, wird das alles so ein bisschen aufgebrochen?
Hamer: Wir wissen, ehrlich gesagt, nicht sehr viel aus ihrem früheren Leben. Alles, was wir wissen, ist, dass sie sehr geradlinig lebt und dass ihr Zuhause letztendlich genauso aussieht wie ein Laboratorium – lange Korridore, sehr kaltes Mobiliar. Und wir sehen Spuren eines erkalteten Lebens, aber so genau wollte ich das jetzt auch nicht erklären.
"Authentisch - ohne schablonenhaft zu wirken"
Burg: Genau. Sie erzählen sehr viel über die Bilder. Marie ist auch eine sehr merkwürdige Person eben in all ihrem Pflichtbewusstsein und in ihrem sehr genauen Leben, also, wie sie sich auch das Haus arrangiert hat. Wie skurril durfte denn Marie sein, und wo war für Sie die Grenze zur Karikatur?
Hamer: Da haben wir sehr viel darüber geredet, und es war eigentlich auch die größte Herausforderung, eine Figur zu finden, die bis kurz vor dem Ende irgendwo auch einheitlich bleibt. Weil am Ende öffnet sie sich, da wird sie dann locker und eben bis dahin nicht. Und inspirierend war es dann wirklich, an dieses Institut in Norwegen für Maßeinheiten und Gewichte zu gehen.
Dort trafen wir eben auch eine Frau, die in etwa das gleiche Alter hat wie Anne, unsere Schauspielerin, und die zum Prototyp für uns wurde. Natürlich nicht ihr Privatleben, sondern ihr Berufsleben. Und wir haben dann wirklich versucht, das so authentisch wie möglich zu inszenieren und nicht dem nachzugeben, dass man versucht, hier und da doch so einen kleinen Lacher einzubauen.
Da besteht natürlich immer das Risiko, auch in eine Karikatur zu verfallen, und wir wollten so ein ganz bisschen andeuten, irgendetwas, was in ihren Augen passiert oder mit ihrem Gang. Aber genau das war letztendlich die Herausforderung, dass wir dem widerstehen mussten, diese Figur unterhaltsamer, normaler, sozialer zu machen. Wie gesagt, bis kurz vor dem Ende, dann passiert hier etwas mit ihr. Aber wir fanden, so, wie wir es aufgebaut hatten, passt es einfach zu der Geschichte, und es sollte authentisch sein, eben ohne schablonenhaft zu wirken.
Burg: Sie entwickelt sich ja im Laufe des Filmes. Was hatten Sie sich denn überlegt, wie sich die Bildgestaltung da einfügen sollte.
Hamer: Wir haben das alles sehr vorsichtig und bedächtig geplant. Es ging ja darum, bei der Hauptfigur das Innenleben auszuloten, zum Beispiel durch Farbtöne. Wir haben sehr viel Blau verwendet, also doch eher kalte Farben. Und dann, beispielsweise, wenn sie nach Paris fährt, da sieht es natürlich anders aus. Paris zeigen wir mehr in goldenen, bräunlichen Farbtönen. Sie öffnet plötzlich ihr Haar, sie macht mehr mit Makeup, sie kleidet sich anders. Das sollte natürlich ihr Innenleben immer auch parallel unterstreichen.
"Gewisse Paris-Klischees lassen sich kaum vermeiden"
Burg: Und warum gerade Paris? Hatten Sie nicht Sorge, dass das ein bisschen zu sehr als Klischee rüber kommt, als Stadt der Liebe? Dann verliebt sie sich in einen französischen Mann, der die Herzen öffnet und das Leben zu schätzen weiß?
Hamer: Nun. Warum Paris? Ganz einfach. Das internationale Kilo ist sozusagen zu Hause in Paris. Wir sind eigentlich an die Originaldrehorte gegangen, ein sehr modernes Labor in der Nähe von Paris. Sicher hatten wir Angst vor gewissen Klischees, wollten die natürlich auch vermeiden, aber wenn man dann einmal in Paris ist, dann lassen sich gewisse Paris-Klischees kaum noch vermeiden.
Deswegen war es sehr wichtig, wen ich für diese Hauptrolle gecastet habe, nämlich Laurent Stocker, weil es war mir ganz wichtig, dass das jetzt nicht so ein großer, dunkelhaariger Lover sein sollte, sondern eher so ein normaler Typ, der dann auch eher zu ihr passt. Und es ist eher das, was er sagt, und wie er das Leben sieht. So schafft er es, seinen Charme spielen zu lassen, indem er seine Weltsicht auf das Leben einfach sagt und sie damit beeindruckt.
Burg: Jetzt sind wir schon mitten drin in der Liebesgeschichte. Wenn wir noch mal zum Ausgangspunkt kommen, zu dem ja fast wissenschaftlichen Versuchsexperiment in Ihrem Film "Kitchen Stories" von 2003, geht es auch um ein schwedisches Forschungsinstitut für Heim und Haushalt, so heißt es, das sich darum kümmert, die Anordnung von Haushaltsgeräten in der Küche von Hausfrauen zu optimieren. Was interessiert Sie an solchen wissenschaftlichen Untersuchungen im Film?
Hamer: Na ja, eigentlich ist es ein Zufall, dass sich diese beiden Filme irgendwie mit der wissenschaftlichen Welt der Recherche auseinandersetzen. Aber ich glaube, es ist doch eine gute Möglichkeit, um Menschen darzustellen, die Kämpfe, die sie so austragen im Alltagsleben. Und "Kitchen Stories" war ein Film, da ging es mehr um Freundschaft, und jetzt "1001 Gramm", da geht es um Liebe. Aber Liebe enthält ja nun auch einen sehr großen Teil von Freundschaft.
"Keinen praktischen Einfluss auf unser Leben"
Burg: Es gibt ein wunderschönes Bild im Film, in dem die Verteter der nationalen Eichämter mit ihren Kilos auf dem Schoß für ein Gruppenfoto posieren. Ich dachte, das Foto könnte auch eines von UN-Mitarbeitern sein. Ich hab in dem Augenblick gedacht, wie selbstverständlich ist es eigentlich, dass sich die meisten Nationen auf diese eine Bezugsgröße einigen konnten.
Hamer: Das ist eine gute Frage, und sie haben sich ja noch nicht wirklich einigen können, und letztendlich hat das aber keinen praktischen Einfluss auf unser Leben, ob man jetzt sozusagen diese neue Methode, diese Avogadro-Methode einführen wird oder sich auf das alte physikalische Kilo noch stützt. Es ist eher die wissenschaftliche Herausforderung, die interessant ist für dieses Institut, weil man ja auch sehr viel Geld hineingesteckt hat.
Burg: Bent Hamer über seinen Film "1001 Gramm". Er läuft am Donnerstag an. Vielen Dank, Herr Hamer!
Hamer: Thank you!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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