Reform

Finnlands Gesundheitssystem wird auf Effizienz getrimmt

Ein Pfleger schiebt einen Rollstuhl durch einen Krankenhausflur.
In Finnland steht eine umfassende Reform des Gesundheitssystems an. © picture alliance / dpa/ Peter Steffen
Von Michael Frantzen · 09.07.2014
Finnlands Wirtschaft rutscht immer tiefer in die Rezession. Es muss gespart werden – auch im Gesundheitsbereich. Die Rede ist von einer "Jahrhundertreform". Doch gerade bei der Landbevölkerung schrillen jetzt die Alarmglocken.
Das ist gerade noch mal gut gegangen: Um ein Haar hätte Christel Hellstens Patientin den Überweisungsschein vergessen. Doch zum Glück ist die Leiterin des Gesundheitszentrums von Inkoo gut zu Fuß. Am Ausgang hat sie die ältere Dame abgefangen. Die Chefärztin stöhnt leise. Es ist Donnerstag, kurz vor zwei. Draußen, keine zweihundert Meter entfernt, steuern ein paar Segelboote die Mole der rund 60 Kilometer westlich von Helsinki gelegenen Hafenstadt an – begleitet vom Gekreische der Möwen. Drinnen läuft Hellsten schnellen Schrittes zurück in ihr Büro – vorbei an der Vitrine mit Ärzteutensilien aus den 50ern und dem Wartezimmer. Sie hält kurz inne. Ganz schön voll.
"Es ist ziemlich viel zu tun heute. Komplizierte Fälle. Besonders meine letzte Patientin – die alte Dame. Sie muss so schnell wie möglich im Krankenhaus operiert werden. Sie hat etwas an den Beinen. Es ist gefährlicher als gedacht. Das Komplizierteste daran war, dass ich für sie nur 15 Minuten Zeit hatte. Aber irgendwie haben wir es schon hinbekommen."
Wenn es hart auf hart gekommen wäre, hätte Christel Hellsten der alten Dame in der Notaufnahme des Gesundheitszentrums Erste Hilfe leisten können. Mag die Fassade des rot-weiß-gestrichenen Flachbaus auch schon bessere Tage gesehen haben: Innen ist alles bestens ausgestattet. Die Notaufnahme genau wie die Praxis des Physiotherapeuten und die des Zahnarztes, an dessen Eingangstür blond gelockte Kinder auf einem Poster vormachen, wie man sich vernünftig die Zähne putzt. Alles unter einem Dach, die komplette medizinische Grundversorgung: Das ist typisch für Finnland. Einen Hausarzt kennen die Finnen nicht, erklärt Hellsten zurück in ihrem nüchtern eingerichteten Besprechungszimmer.
"Wir stellen unsere Arbeit permanent auf den Prüfstand. Stimmt etwas nicht, verändern wir es. Wir wollen so effizient wie möglich sein, sprich: Möglichst viele Patienten möglichst gut versorgen. Das ist bei uns in Finnland sehr gut organisiert. Die Krankenschwestern nehmen uns Ärzten viel Arbeit ab. Jeder Patient spricht erst einmal mit einer Krankenschwester. Sie entscheidet anhand eines Punktesystems, wer einen Termin bei mir bekommt. Wir nutzen jeden Bereich des Gesundheitszentrums so effektiv wie möglich."
"Weniger ist mehr" lautet das Motto der Gesundheitsreform
Auf vier Ärzte kommen im Gesundheitszentrum der 5600-Einwohner-Gemeinde vier Krankenschwestern. Als Christa Hellsten anfing – vor dreißig Jahren - waren es jeweils nur zwei. Der sonst so ernst wirkenden Frau huscht ein Lächeln über die Lippen. Es waren andere Zeiten. Ruhige Zeiten. Inkoo war damals ein verschlafenes Nest, das allenfalls wegen seiner wuchtigen Nikolaus-Kirche von sich Reden machte - und der "Blauen Dame", einem Gespenst, das der Legende nach in einem Gutshaus seine Runden zieht. Viel mehr war nicht.
Doch das war bevor immer mehr Besucher aus Helsinki den Reizen des Archipels erlagen: Den Schären und endlosen Birkenwäldern. Einige blieben für immer. So wie Christa Hellsten. Viel persönlicher sei es hier, meint die Frau, der man ihre Anfang sechzig nicht ansieht. Weniger anonym, auch bei der Arbeit. Doch damit könnte es bald vorbei sein. Die Chefärztin wühlt auf ihrem Schreibtisch herum, ehe sie mit spitzen Fingern einen Zeitungsauschnitt hochhält. Von einer "Jahrhundertreform" ist dort die Rede. Tatsächlich hat es die Gesundheits- und Sozialreform in sich, auf die sich Regierung und Opposition überraschenderweise im März geeinigt haben. Weniger ist mehr lautet das Motto. Weniger Kosten, vor allem: Weniger Träger. Bislang gibt es davon im Land der Seen und Wälder rund 150. In Zukunft nur noch fünf.
"Wir wissen eigentlich nur, dass Inkoo zum neuen südlichen Gesundheitsbezirk gehören soll. Aber was es praktisch bedeutet: Keine Ahnung. Kein Mensch weiß, wie viele Gesundheitszentren und Krankenhäuser übrig bleiben. Je früher wir Bescheid wüssten, desto besser. Aber wie ich unsere Bürokratie kenne, wird es dauern. Ich selbst mache mir wegen der Reform keinen Kopf. Ärzte werden immer gebraucht – irgendwo, irgendwie. Ich werde erst einmal abwarten."
Auch Mikaela Lundbary hat schon von der Reform gehört. Die Frau mit der knallbunten XL-Bluse und Hose ist heute in die Kinderpraxis des Gesundheitszentrums gekommen – zusammen mit ihren Söhnen. Lebendig sind die drei – und in Nullkommanichts in der Spielzeugecke, wo sie sich auf die Mumins stürzen – die Plastikfiguren mit der Knollennase, die in Finnland allgegenwärtig sind.
"Wir haben einen Vorsorgetermin beim Arzt. Für unseren Jüngsten, Simon. Er ist gerade acht Monate geworden. Ich musste zwei Wochen auf den Termin warten, aber das finde ich okay. Mit dem Service bin ich zufrieden. Wir kennen die Ärzte und Krankenschwestern schon seit einer halben Ewigkeit. Ich hoffe, dass sich durch die Reform nichts ändert. Nicht, dass sie uns einfach unser Gesundheitszentrum wegnehmen. Das ginge doch nicht. Aber man weiß ja nie."
Unsicherheit herrscht auch ein paar Schritte entfernt vom Gesundheitszentrum im Gemeindehaus von Inkoo – einem filigranen roten Klinkerbau, der von anspruchsvoller finnischer Architektur kündet - und langen kalten Wintern, die an der Substanz nagen. Sozialarbeiterin Mikaela Heinonen schenkt sich in ihrem winzigen Büro Kaffee ein. Schon die dritte Tasse heute, meint sie lapidar. Die Reformen im Gesundheits- und Sozialbereich machen der zierlichen Frau zu schaffen. Schon jetzt hat sie alle Hände voll zu tun. Sie hievt einen Stapel Akten hoch: Hier, meint sie: Alles unerledigte Fälle.
Eine Reform, die in die Geschichtsbücher eingehen könnte
"Ich mache mir wirklich Sorgen. Bei der Reform ist fast nur vom Gesundheitssystem die Rede. Haben sich die Politiker überhaupt Gedanken gemacht, wie es im Sozialbereich weitergehen soll? Mehr und mehr Menschen sind von Sozialhilfe abhängig – auch bei uns. Wir haben immer mehr Leute, die wegen der Rezession ihre Arbeit verloren haben. Familien mit Kindern. Was soll ich denen jetzt sagen? Kann ich ihnen garantieren, dass sie in zwei, drei Jahren noch dieselben Leistungen erhalten; sie immer noch in Inkoo versorgt werden? Gerade arme Leute haben doch gar nicht die finanziellen Möglichkeiten, weite Strecken zu fahren. Sie brauchen Hilfe vor Ort."
"It’s a really major reform", tönt es derweil aus der Hauptstadt. Wo jemand wie die Sozialarbeiterin potentielle Gefahren sieht, sieht Juhani Eskola, Leiter des Nationalen Instituts für Gesundheit und Soziales, kurz THL, nichts weniger als eine Reform, die in die Geschichtsbücher eingehen könnte. Das kommt nicht von ungefähr: Ohne das THL, sprich ohne Eskola – sagen die, die sich in den Verästelungen des finnischen Gesundheitssystems auskennen, gäbe es die ganze Reform nicht. Der Endfünfziger schüttelt den Kopf. Ein bisschen viel der Ehre. Sie hätten lediglich die Regierung beraten, meint der blasse Mann mit dem schlohweißen Haar, der etwas von einem Märchenonkel hat. Doch man sollte sich da nicht täuschen lassen.
"Die Reform schafft dreierlei. Erstens: Es gibt jetzt fünf starke, finanzkräftige Träger, die besser haushalten können. Sie geben vor, wo und wie die Gemeinden im Gesundheitsbereich das Geld ausgeben. Sie können beispielsweise sagen: Ein Krankenhaus für den gesamten Bezirk reicht. Zweitens: Durch die Reform werden die Gesundheits- und Sozialangebote miteinander verzahnt. Die Gelder fließen nur noch aus einem Topf, verteilt von einem Entscheidungsträger. Das ist bahnbrechend. Wir können so viel effizienter arbeiten. Und drittens: Wir können endlich Mittel, die bislang den sehr teuren Spezial-Krankenhäusern zu Gute kamen, für die Grundversorgung nutzen."
Macht summa summarum: Eine Jahrhundertreform. Frohlockt Eskola in seinem Riesen-Büro am Rande Helsinkis, wo der Beton der gefräßigen Stadt langsam den Felsen und Wiesen des Umlandes Platz macht. Das THL soll das, was die Politiker beschlossen haben, praxistauglich machen – und das finnische Gesundheitssystem noch effizienter. Bei neun Prozent des Bruttosozialprodukts liegen die Gesundheitsausgaben – das ist um einiges weniger als in Deutschland, von den Vereinigten Staaten ganz zu Schweigen.
Doch Eskola reicht das nicht: Bis zu eine Milliarde Euro – haben seine Statistiker ausgerechnet – könnte durch die Reform gespart werden. Pro Jahr. Bei der Landbevölkerung schrillen da die Alarmglocken. Schon jetzt klagen sie in Lappland und anderswo über zu wenige Ärzte und zu lange Wartezeiten, fürchten viele bei der Reform abermals den Kürzeren zu ziehen. Soweit will es der Institutsleiter nicht kommen lassen. Man könne gegensteuern. Erklärt Eskola. Mit mobilen Gesundheitszentren etwa. Ihm ist das wichtig. Schließlich hat er sich seine ersten Sporen als Arzt in den 70er-Jahren im Nordosten Finnlands verdient, einer Gott verlassenen Gegend nahe der russischen Grenze, wo es mehr Elche und Rentiere gibt als Menschen.
"Das war eine sehr arme ländliche Gegend. Ich habe da eine Menge gelernt für meinen Beruf. Wie man menschenwürdig mit Patienten umgeht. Die Leute waren bitterarm. Einige lebten in Hütten, mitten in der Wildnis, es gab keine Straßen, nichts. Wenn sie etwas hatten, bin ich zu ihnen nach Hause – im Winter auf Skiern. Ich war ein Ski-Doktor."
Ski-Doktoren laufen einem in dem skandinavischen Land längst nicht mehr über den Weg, dafür aber Ärzte, die im Notfall in den Hubschrauber steigen, um Patienten in abgelegenen Gebieten zu helfen. In Helsinki haben sie so etwas nicht nötig.
2600 Euro brutto für eine Krankenschwester
Bei Notfällen ist das städtische "Haartmann"-Hospital erste Anlaufstelle – das größte Notfallkrankenhaus ganz Finnlands. 210 Patienten werden hier täglich eingeliefert. Immer die gleiche Routine: Als erstes zieht der Patient im Eingangsbereich, der auf den ersten Blick eher auf ein Einwohnermeldeamt schließen lässt, an einem Automaten eine Nummer von eins bis fünf: Eins für ganz schwere Fälle, fünf für den Zahnarzt. Dann erst wird der Patient vorgelassen – zu einer Krankenschwester am Schalter. Sie entscheidet, ob es sich wirklich um einen Notfall handelt – und nimmt die Gebühr in Empfang: 27,50 Euro. Für Sari Hüttelen alles Routine. Morgen wird die junge Krankenschwester wieder "Schalter-Dienst" haben – wenn auch ungerne. Lieber arbeitet sie in der Notaufnahme wie an diesem Morgen. Die zierliche Frau reibt sich im Schwesternzimmer die Augen. An das frühe Aufstehen muss sie sich erst wieder gewöhnen. Bis gestern war sie in Mutterschaftsurlaub, ihre Tochter, meint sie schmunzelnd, sei eine richtige Schlafmütze.
"Jetzt, zu Schichtbeginn, schaue ich mir die Patienten-Akten an um mir einen Überblick zu verschaffen – für die Dienstbesprechung mit den Ärzten um viertel nach neun. Was haben die Patienten? Was hat die Nachtschwester geschrieben? Was steht an? Wir Krankenschwestern haben ganz schön viel Verantwortung – nicht nur den Patienten gegenüber. Wir informieren die Ärzte über den Gesundheitszustand des Patienten. Wir sind ein Team."
Dreieinhalb Jahre hat Sari Hüttelen an der Fachhochschule studiert um Krankenschwester zu werden. Standard in Finnland. Genau wie die 2600 Euro, die sie am Ende des Monats überwiesen bekommt – Brutto. Im Hochpreisland Finnland kann man sich davon keine großen Sprünge leisten. Kein Wunder also, dass das Haartmann-Krankenhaus zunehmend Schwierigkeiten hat qualifizierte Krankenschwestern zu finden. Abhilfe kommt von außen: Hüttelens Chefin, die Leiterin der Inneren Medizin Laura Pikkarainen, ist längst dazu übergegangen, ausländische Krankenschwestern anzuwerben: Hauptsächlich Estinnen, weil das Estnische mit dem Finnischen verwandt ist. Es ist nicht die einzige Sorge, die die 43-jährige Powerfrau plagt.
"Das Schlimmste steht uns noch bevor. Wegen der Rezession. Und dann noch diese Gesundheitsreform. Die Stadt Helsinki muss sparen – auch im Gesundheitsbereich. Ergo werden auch wir sparen müssen. Da hilft kein Jammern. Wir sollten uns am besten jetzt schon überlegen wie. Bei den Ärzten und Krankenschwestern sehe ich beim besten Willen keinen Spielraum mehr, wohl aber bei den Patienten. Bei der Aufenthaltsdauer. Aktuell sind es fünf Tage. Das wird weniger. Ich bin mir auch nicht sicher, ob wir in Zukunft noch so viele Patienten aufnehmen können. Zurzeit haben wir 118 Krankenhausbetten. Mich würde es ehrlich gesagt wundern, wenn wir in zehn Jahren noch so viele Betten hätten."
Noch aber geht alles seinen gewohnten Gang im Haartmann-Krankenhaus. Eine Dreiviertel Stunde hat die morgendliche Runde zwischen Ärzten und Krankenschwestern gedauert. Jetzt steht für Laura Pikkarainen Papierkram an. Als Stationsleiterin kommt sie darum nicht herum. Ein kurzer Smalltalk mit einem Pfleger – dann spurtet sie in ihr Büro am anderen Ende des Flurs. An ihrer offenen Tür bleibt sie staunend stehen. Da sind sie also: Die ominösen grauen Kästen, auf die alle schon warten.
"Das sind unsere neuen Kunden-Zufriedenheits-Apparate. Wenn du zufrieden bist mit unserem Service, drückst du den grünen Knopf – mit dem Smiley. Wenn nicht, den roten – mit dem mürrischen Gesicht. Diese Ungetüme haben sie jetzt ausgerechnet mir ins Büro gestellt. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was ich damit anfangen soll."
Laura Pikkarainen wird auch dafür noch eine Lösung finden – ganz pragmatisch, Finnisch halt. Die Ärztin verdreht die Augen, ehe sie anfängt zu lachen. Es gibt Schlimmeres. Die Gesundheitsreform etwa. Spätestens im August soll die Vorlage ins Parlament kommen, danach heißt es erst einmal warten – für Pikkarainen und Co. Selbst im ach so effizienten Finnland mahlen die Mühlen der Bürokratie langsam.