Raus aus der Familie?

Wenn Eltern ihren Kindern schaden

Ein gemaltes Bild mit dem Schriftzug "Help" im Gebäude des Kindernotdienstes in der Gitschiener Straße, aufgenommen am 14.04.2008 in Berlin.
Der Schutz des Kindes ist im Grundgesetz nicht verankert. © picture alliance / ZB / Soeren Stache
Von Susanne Nessler und Christine Westerhaus · 24.01.2016
In Schweden ist es seit 1979 verboten, Kinder zu schlagen, in Deutschland erst seit 2000. Auch wenn es darum geht, ob Eltern ihre misshandelten oder vernachlässigten Jungen und Mädchen zurückbekommen, unterscheiden sich die Länder. Unsere Reporterinnen haben die Arbeit des Jugendamtes begleitet, die Kinder besucht und mit Pflegeeltern gesprochen - in beiden Ländern.
"Die schöne Zeit haste schon verpasst, der hat vorhin erzählt..."
Leo ist 9 Monate alt, voller Energie robbt der kleine Junge über den Wohnzimmerboden. Er jauchzt, wenn er ein paar Zentimeter nach vorne geschafft hat, kugelt sich auf den Rücken und versucht es gleich an anderer Stelle nochmal. Den ganzen Nachmittag geht das schon so, auf die Knie, nach vorne eine Rolle und wieder auf die Knie.
"Wie alt ist er denn jetzt?"
"Neuneinhalb."
Kirsten nimmt den Jungen hoch, knuddelt und herzt ihn.
"Wir selbst können ja keine Kinder bekommen und da haben wir uns überlegt, wir machen das Haus halt auf diese Art und Weise voll. Geben halt anderen Kindern eine Möglichkeit. In einem behüteten Haus - also aus unserer Sicht - in einem behüteten Haus aufzuwachsen."
Schwierige Entscheidungen direkt vor Ort
Kirsten ist Leos Pflegemutter. Seit der Junge auf der Welt ist, kümmern sich Jugendamt, Vormund und Pflegeeltern um ihn. Gleich nach der Geburt kam Leo "in Obhut" - so der offizielle Begriff. Im Klartext: seine leibliche Mutter durfte ihn nicht behalten. Sie ist 16 und wird ebenfalls vom Jugendamt betreut. Die Verhältnisse, in denen sie lebt, sind offenbar extrem schwierig, sonst hätte das Jugendamt nicht einschreiten dürfen. Nur in wirklich schwerwiegenden Fällen dürfen Kinder ihren Eltern entzogen werden.
"Da geht es meistens darum, Unversorgtheit der Kinder im relativ umfänglichen Maße. Hin und wieder sexuelle Übergriffe bei Kindern unterschiedlichen Alters und Gewalt gegen Kinder innerhalb der Familie durch die sorgeberechtigten Eltern."
Katrin Krause arbeitet bei Jugendamt in Neuruppin. Sie trifft schwierige Entscheidungen direkt vor Ort, nimmt Kinder mit. Als nächstes kommt dann Elke Weng ins Spiel. Sie betreut Pflegefamilien wie Marco und Kirsten und den kleinen Leo. Ob Leo dauerhaft in der Pflegefamilie aufwachsen wird, ist unklar, denn zur Adoption wurde er nicht frei gegeben. Bislang will die Mutter ihn nicht sehen, sie zeigt kein Interesse für ihr Kind. Doch sollte sich ihre Lage stabilisieren, könnte sie Leo zu sich zu holen. Das ist ihr Recht. Ob das auch für Leo gut ist, steht auf einem anderen Blatt.
Über 48.000 Kinder haben die deutschen Jugendämter im vergangenen Jahr aus ihren Familien genommen. Das sind, rechnet man den Anteil unbegleiteter Flüchtlingskinder raus, über ein Drittel mehr, als noch vor 10 Jahren. Und deutlich weniger als in Schweden, wo das Recht der Kinder über dem Recht der Eltern steht. Hochgerechnet auf die Einwohnerzahl werden dort fast sechsmal so viele Kinder unter staatliche Obhut gestellt. Extremsituationen wie sie Elke Weng und ihre Kolleginnen im Jugendamt Neuruppin erleben, sollen gar nicht erst entstehen.
"Ja, alles, wir haben auch schon von ganz schlimmen Kindern, die ganz klein fast am Verhungern waren, die geschlagen, misshandelt wurden. Und es gibt aber auch die Fälle, wo Mütter wirklich wollen, die würde gerne das Beste für ihr Kind tun, aber die sind in der eignen Situation, dass sie kaum alles für sich selbst regeln können."
Auch Ronja Ek ist unter schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Sie lebt in Schweden. Das Land gilt international als Vorreiter in Sachen Kinderrechte. Die 27-Jährige steht im Gunnesby Stall nördlich von Göteborg und gibt ihrem Pferd einen Haferbrei zu fressen.
Papier gegessen, um nicht zu verhungern
Während sie die Mähne des Pferds kämmt, erzählt Ronja von ihrer leiblichen Mutter. Sie war erst 17, als sie Ronja bekam, ging tagelang auf Sauftour und ließ das Kleinkind allein zu Hause. Oft ohne Essen.
"Ich war sehr gut darin, trotzdem klar zu kommen. Manchmal habe ich Papier gegessen, wenn ich richtig schlimmen Hunger hatte. Davon wurde mir natürlich schlecht, aber man tut was man kann, um zu überleben."
Wie viel die Mutter trank und wie es Ronja erging, ahnten auch ihre Pateneltern nicht, die sich schon von klein auf um sie kümmerten. Als die Oma Ronjas leiblichen Vater bei der Polizei beschuldigt, das Kind sexuell missbraucht zu haben, kommt es in staatliche Obhut. Damals ist Ronja etwa 5 Jahre alt. Die Behörden bitten ihre Pateneltern, sich um sie zu kümmern.
"Ich hatte unglaubliches Glück, dass ich bei Eltern gelandet bin, die ich schon kannte. Sie haben mich wie ihre eigene Tochter behandelt und mir erklärt, dass es nicht an mir lag, dass sich meine Mutter nicht um mich gekümmert hat. Meine Pflegeeltern haben mir Selbstvertrauen gegeben und das Gefühl, dass ich für sie das Wichtigste in der Welt bin. Und das zu erleben war für jemanden wie mich ein fantastisches Erlebnis."
Eine Handpuppe auf einer Liege in einem Untersuchungsraum in der  Kinderschutzambulanz
Über 48.000 Kinder haben die deutschen Jugendämter im vergangenen Jahr aus ihren Familien genommen.© picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte
Ronja flechtet die Mähne ihres Pferds zu einem Zopf und erzählt, dass sie stolz ist auf ihre guten Noten und dass sie inzwischen als Ingenieurin arbeitet. Sie hat innerlich Frieden mit der leiblichen Mutter geschlossen und hegt keinen Groll gegen sie.
"Meine Pflegeeltern haben mich irgendwann adoptiert und ich hatte immer sehr wenig Kontakt zu meiner leiblichen Mutter. Sie war ihrer Mutterrolle einfach nicht gewachsen. Ich weiß, dass ich ihr auch wichtig bin und dass es nicht an mir gelegen hat, dass sie sich nicht um mich gekümmert hat. Ich habe sehr früh verstanden, dass sie einfach zu viele eigene Probleme hat und sich darauf konzentrieren muss, dass sie die Finger von Drogen und Alkohol lässt."
Autorin: Dass das Sozialamt immer wieder versucht hat, Tochter und Mutter zusammenzubringen, während sie in ihrer Pflegefamilie lebte, empfand Ronja eher als lästig.
"Es gab Zeiten in denen es hieß: Jetzt soll ich meine leibliche Mutter treffen, das sei wichtig für mich. Aber es war mir nicht wichtig. Diese Treffen, zu denen wir quasi gezwungen wurden, haben weder mir, noch meiner Mutter gut getan. Aber ich glaube, es ist auch unheimlich schwierig zu wissen, was einem Kind in so einer Situation gut tut und was nicht."
Ein Recht auf gewaltfreie Erziehung
In Schweden ist es seit 1979 verboten, Kinder zu schlagen. In Deutschland erst seit dem Jahr 2000. Theoretisch hat seitdem jedes Kind das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung.
Wenn Elke Weng vom Jugendamt in Neuruppin erfährt, dass einem Kind Gewalt angetan wird, dass es hungert oder verwahrlost, organisiert sie eine Unterbringung in einer Pflegefamilie oder in einer betreuten Wohngruppe. Die Entscheidung ein Kind von seinen Eltern zu trennen, ist folgenreich. Formal steht in Deutschland Elternrecht vor Kindesrecht.
"Das ganz, ganz große Thema ist natürlich das Sorgerecht und das haben, auch wenn die Kinder in Pflegefamilien sind, hauptsächlich die Eltern weiter. Und damit können die sehr, sehr viel bestimmen. Denn die Pflegeeltern bekommen ja bei uns einen Vertrag. Und in dem Vertrag steht ja drin, dass sie die Alltagsangelegenheiten nur regeln können."
Die Schulzeugnisse müssen zum Beispiel von den Sorgeberechtigten unterzeichnet werden. Auch welcher Kinderarzt konsultiert werden soll, dürfen die leiblichen Eltern bestimmen. Und sie haben das Recht, ihre Kinder regelmäßig zu sehen, auch wenn sie nicht für sie sorgen.
"Wir versuchen durch die Gespräche, das schon so zu regeln, aber die Eltern haben das Recht und die Eltern haben vor allem auch Umgangsrechte, das ist ja ein Teil des Sorgerechts und da muss eben schauen, wie kriegen wir das so hin, dass es allen gerecht wird."
In der Regel ist genau das nicht möglich: allen gerecht zu werden. Eltern beklagen, dass das Jugendamt ihnen ihre Kinder wegnimmt, Pflegeeltern prangern an, dass sie über die Zukunft ihres Pflegekindes im Unklaren bleiben und die Kinder selbst geraten in Loyalitätskonflikte zwischen Pflegeeltern und leiblichen Eltern. Psychische Instabilität ist die Folge. Ist das noch im Sinne des Kindeswohls?
Elke Wenig vom Jugendamt Neuruppin arbeitet intensiv mit den Familien, damit sie es schaffen, ihre Kinder zu versorgen. Das oberste Ziel ist es von Amts wegen, dass Kinder bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen.
"Immer wenn wir Kinder unterbringen, ist es wichtig, dass die Eltern jetzt ist hier ein Punkt erreicht, das muss sich was ändern, so können wir nicht weiter leben, wenn wir mit dem Kind zusammenleben wollen."
So kommt es, dass zum Beispiel drogenabhängige Eltern ihre Kinder wieder zu sich nehmen können, wenn sie erfolgreich an einem Methadonprogramm teilnehmen. Manchmal geht alles gut, manchmal kommt es aber auch zum Schlimmsten, so wie bei dem zweijährigen Kevin, dessen gewaltsamer Tod in Bremen die ganze Nation erschüttert hat.
Jugendämter stehen schnell am Pranger
Peter Håkansson kommt gerade aus der morgendlichen Kaffeepause zurück. Der 63-Jährige arbeitet schon seit mehr als 40 Jahren im schwedischen Sozialdienst. In seinem Büro in der Göteborger Innenstadt erzählt er, dass der schwedische Staat seit 1982 weitreichende Möglichkeiten hat, Kinder in seine Obhut zu nehmen. Und er macht von diesem Recht häufig Gebrauch. 2013 befanden sich in Schweden gut 33.000 Kinder in staatlicher Obhut – hochrechnet auf die Einwohnerzahl sechs Mal mehr als in Deutschland
"Vor einigen Jahren gab es gegen Schweden einige Anzeigen vor dem Europäischen Gerichtshof. Man war der Meinung, dass in Schweden im Vergleich zu den Nachbarstaaten zu viele Kinder aus ihren Familien genommen werden. Es ist natürlich immer kritisch, ein Kind in die Obhut des Staates zu nehmen. Für irgendjemanden ist es immer die falsche Entscheidung. Entweder gab es zu wenige Gründe dafür oder die Behörden werden kritisiert, weil sie zu spät reagiert haben."
Diesen Konflikt erleben auch die Jugendämter in Deutschland: wenn sie zu spät reagieren, stehen sie am Pranger. So wie bei Kevin. Aber wehe, sie nehmen ein Kind zu früh aus der Familie. Dabei spricht die Statistik für eine stärkere Einmischung des Staates: in Schweden ist die Zahl der Kinder, die durch häusliche Gewalt zu Tode kommen, deutlich gesunken. Es kommt fast gar nicht mehr vor. Eben weil die schwedischen Sozialbehörden schneller eingreifen als in anderen Ländern, vermutet Peter Håkansson.
"Das ist wohl so. Obwohl es auch Kritik gibt, dass Schweden sich nicht stark genug für Kinderrechte einsetzt, denke ich schon, dass wir uns sehr stark nach den Rechten der Kinder richten und sie auch deutlich zu Wort kommen lassen."
1989 hat Schweden die UN Kinderrechtskonvention als eines der ersten Länder ratifiziert und seitdem einige der Forderungen umgesetzt. So haben Kinder unter 15 Jahren beispielsweise Anrecht auf einen Beistand vor Gericht.
Deutlich mehr Anzeigen als früher
Auch Deutschland hat die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert, so wie weltweit 197 Länder, darunter auch Afghanistan. Aber zunächst einmal handelt es sich um nicht mehr als eine Absichtserklärung. Jedes Land regelt die Umsetzung der Gesetze anders. Manchmal auch unter Druck.
Wenn wieder ein Kind von den eigenen Eltern in den Tod geschickt wird – misshandelt, vernachlässigt, gequält – fragen alle: Wie kann so etwas geschehen? Wo war das Jugendamt?
Unter diesem öffentlichen Druck wurde im Jahr 2012 das bundesweite Kinderschutzgesetz verabschiedet. Seither gibt es noch früher Hilfen für Eltern und Kinder und Jugendamt, Beratungsstellen und Kinderärzte arbeiten enger zusammen. So werden Kinder besser vor ihren Eltern geschützt, aber ihre Rechte sind nach wie vor nicht im Grundgesetz verankert.
Heute kommt es zu deutlich mehr Anzeigen als noch vor einigen Jahren. Das gilt für Deutschland, aber auch für Schweden. Peter Håkansson vom schwedischen Sozialdienst beobachtet – genau wie seine Kolleginnen in Deutschland -, dass immer mehr Privatpersonen aufmerksam sind und eingreifen, wenn es einem Kind schlecht geht.
"Ob in Schweden mehr Menschen dazu bereit sind als in anderen Ländern, ist schwer zu sagen. Aber die Zahl der Anzeigen hat in den letzten Jahren dramatisch zugenommen. Ich glaube nicht, dass das ein Zeichen dafür ist, dass heutzutage mehr Kinder misshandelt werden. Es zeigt eher, dass die Menschen eher bereit sind, die Behörden zu informieren wenn sie sehen, dass ein Kind schlecht behandelt wird."
"Sie sind im Kindernotdienst in Berlin. Wir sind Ansprechpartner für alle Menschen die in Notsituationen sind, (...) das können Eltern sein, die am Rande ihrer Kräfte sind, das können Eltern sein, die gerade häusliche Gewalt miteinander erlebt haben und es können Kinder sein, die genau das erlebt haben und hier herkommen."
Handeln oder abwarten?
Michael Bednasch und seine Kollegin Frau Brandsch-Böhm haben vor zwei Stunden ihren Dienst begonnen. Der Berliner Kindernotdienst ist rund um die Uhr besetzt, 24 Stunden, jeden Tag im Jahr.
Ein Altbau im Berliner Stadtteil Kreuzberg, die Räume sind großzügig, die Decken hoch. Eine wohnliche Atmosphäre. Im Vorraum steht ein gemütliches Sofa, ein großes Aquarium plätschert unmerklich leise und beruhigend. Gleich dahinter liegt eines der Beratungszimmer, hinten im Zimmer, links in der Ecke häufen sich Stofftiere aller Art und Größe in einer Spiel- und Kuschelecke.
In der Einrichtung ist Platz für 10 Kinder, sie schlafen im Gebäude nebenan. Die meisten bleiben ein paar Tage, bis klar ist, wie es weitergeht.
"Wir unsere Kinder sehr beschützen müssen. Deshalb gibt es auch einen Zaun zur Straße, wo man nicht durchgucken kann. Weil, natürlich manchmal die Situationen sehr kritisch sind und Eltern nicht wollen, dass ihre Kinder von ihnen getrennt sind und manchmal auch am Zaun sind. Und das für die Kinder ausgesprochen schwierige Situationen sind."
Zurzeit sind 4 Kinder im Haus. Darunter ein 13 jähriger Junge, nennen wir ihn Pepe. Seit über einer Woche ist er im Kindernotdienst untergebracht. Das ist ungewöhnlich lang. Doch der Junge muss ja irgendwo bleiben, sagt Frau Brandsch-Böhm, die gerade wieder mit der Polizei telefoniert hat, denn Pepe ist mal wieder abgehauen und treibt sich irgendwo in der Stadt rum.
"Na nochmal abgestimmt, weil wir um 22 Uhr eine Vermisstenmeldung machen. (...) Das ist ein Kind, der gar nicht so richtig hier her gehört, der hat einen Förderbedarf ... jetzt ist es bei uns und auf den muss man schon ein bisschen aufpassen, der ist .. ach Gott ja, der kann das nicht selbst, kann man 13 sowieso nicht gut, aber der kann besonders wenig gut auf sich aufpassen."
Ausgebeutete Kinder in den Händen der Schlepper
Einen Abend zuvor sind die Mitarbeiter vom Kindernotdienst mit dem LKA unterwegs, weil sie drei kleine Kinder aus den Wohnungen von Schleppern holen müssen. Ermittler sind Menschenhändlern auf die Spur gekommen. Die Kinder werden vom Kindernotdienst sofort mitgenommen.
"Und das war ganz klar, dass dies eine Inobhutnahme wird, obwohl wir die Kinder noch nicht gesehen haben – also wir entscheiden ja kollegial nach in Augenscheinnahme, ob Gründe für eine Inobhutnahme vorliegen, also für das Einschränken von Elternrechten – in diesem Fall gab es keine Eltern, nur Menschen, die sich als Eltern ausgegeben haben ... und diese Kinder wurden ausgebeutet nach Strich und Faden, seit Jahren."
"Ja, hallo Kindernotdienst hier, guten Tag!"
"Die Mutter trinkt?"
"Ja... Und wo ist das Kind jetzt?"

Das Gebäude des Kindernotdienstes Berlin in Kreuzberg, der rund um die Uhr erreichbar ist.
Das Gebäude des Kindernotdienstes Berlin in Kreuzberg, der rund um die Uhr erreichbar ist.© picture alliance / dpa / Steffen Kugler
Wann nimmt man ein Kind aus seiner Familie heraus? Kleinere Kinder können nicht beim Kindernotdienst vorbeikommen oder anrufen. Die Entscheidung müssen am Ende die Sozialarbeiter treffen, und die tun sich zu Recht schwer damit.
"Wir hatten eine Familie, da haben wir die Kinder, ich weiß nicht wie oft, ich glaube vier oder fünfmal nachts in Obhut genommen. Immer weil beide Eltern betrunken waren. Die Kinder sind jeweils am nächsten Werktag vom Jugendamt wieder zurückgegeben worden in die Familie."
Handeln oder Abwarten? Nicht nur für Michael Bednasch und Frau Brandsch-Böhm sind das die schwierigsten Entscheidung.
"Das ist ganz schwierig, ich glaube jeder hatte irgendwie recht. Wir waren immer in Akutsituationen nachts da, da waren die Kollegen des Jugendamts nie da, und die haben immer gesagt, ja wir wissen, dass die Eltern ein Suchtproblem haben, aber die wollen was verändern und wir wollen sie dabei unterstützen. Das war eine schwierige Entscheidung zu sagen, beim nächsten Anruf überlegen wir, ob wir die Kinder nicht doch da lassen können."
Auch in Schweden keine klaren Kriterien
Lebte diese Familie in Schweden, dann hätten die staatlichen Behörden vermutlich längst eingegriffen. Aber klare Kriterien dafür, wann ein Kind aus der Familie geholt wird, gibt es auch in Schweden nicht. Es müssen sogenannte "schwerwiegende" Probleme vorliegen , das können Drogenmissbrauch, psychische Störungen der Eltern oder aber Misshandlung oder sexuelle Übergriffe sein. Gibt es allerdings konkrete Hinweise darauf, dass ein Kind misshandelt oder grob vernachlässigt wird, kann alles sehr schnell gehen, erzählt Bibbi Rönn. Gemeinsam mit ihrer Freundin nimmt sie Kinder bei sich auf, direkt nachdem sie aus ihren Familien geholt wurden.
"Es kann sein, dass eine Erzieherin beim Sozialdienst anruft und sagt: Wir haben ein geschlagenes oder vernachlässigtes Kind hier. Und dann rücken die Mitarbeiter aus. Finden sie genügend Gründe dafür, dass ein Kind direkt in die Obhut genommen werden soll, kann es sein, dass wir einen Anruf bekommen und das Kind eine halbe Stunde später bei uns vor der Tür steht."
Während ihre Freundin Katja gerade ein paar Kaffeetassen in die Spülmaschine räumt, erinnert sich Bibbi an einen Fall, bei dem die Erzieherinnen im Kindergarten Alarm geschlagen hatten. Die drei Geschwisterkinder wurden sofort von der Polizei aus Kindergarten und Schule abgeholt und bei Bibbi und Katja untergebracht. Sie waren damals zwei, sechs und 12 Jahre alt.
Mehr Vertrauen in den Sozialstaat
"Als wir Frühstück gegessen hatten, war die erste Frage: Wann gibt es das nächste Mal was zu essen? Die Kinder stopften so viel Essen in sich rein, dass wir dachten: Jetzt müssen sie sich gleich übergeben. Sie waren es nicht gewohnt, sich satt essen zu können. Zwei Wochen ging das so, bis sie verstanden hatten, dass sie bei uns regelmäßig zu essen bekommen würden. Als sie nach dem Essen baden sollten, saßen sie am Badewannenrand und wussten nicht, was sie tun sollten. Sie hatten noch nie gebadet! Das war wirklich traurig, solche Kinder vergisst man nie!"
Vielleicht sind die Nachbarn in Schweden doch aufmerksamer und die Sozialarbeiter mutiger als in Deutschland. Womöglich haben die Schweden aber auch einfach mehr Vertrauen in ihren Sozialstaat und die besseren Gesetze. In Deutschland jedenfalls wünschen sich Sozialarbeiter wie Bednasch und Brandsch-Böhm vom Kindernotdienst noch mehr Hinweise und werben um Vertrauen. Sie erleben, dass Kinder in völlig vermüllten Wohnungen hausen, die Eltern betrunken, der Kühlschrank leer. Wenn sie sich nachts neben die Betten der kleinen Kinder setzen und ihnen erklären, dass sie sie jetzt mitnehmen, weil Mama und Papa gerade nicht für sie sorgen können, dann gehen sehr oft die Türen in der Nachbarschaft auf. Im Haus wissen offensichtlich alle Bescheid, nur getan hat bislang niemand etwas.
"Ich habe einen Hausbesuch gehabt in der Nacht, wo wir das Kind mit genommen haben. Die haben in der 3. Etage gewohnt, der Anruf war von einer Nachbarin, die die Mutter gut kannte und sagte die geht trinken, das Kind ist jetzt allein zu Hause, 7 Jahre alt. In der Wohnung waren 30 bis 50 Zentimeter hoch der Boden in der gesamten Wohnung komplett bedeckt mit Müll, mit Unrat. In der Wohnung war kein Strom, die Toilette funktionierte nicht, das war ein infernalischer Gestank, das kann man gar nicht anders ausdrücken."
Kinder im Dunst von Alkohol und Drogen
Mitten in der Gesellschaft leben Kinder im Dreck oder im Dunst von Alkohol und Drogen, ohne dass irgendwer irgendetwas dagegen unternimmt.
"Die ist seit zwei Jahren zur Schule gegangen, die hat Nachbarn gehabt. Die hat jemanden gehabt, der den Strom abgestellt hat, die hat einen Vermieter gehabt und die war nirgendwo bekannt. Und das ist mit anderen Situationen, mit häuslicher Gewalt, mit Misshandlungen mit Verwahrlosung nicht anders. Wir kommen nachts um 2 irgendwo hin, da geht beim Nachbarn gegenüber die Tür auf und: Ja, es wird ja höchste Zeit, dass mal jemand kommt, das ist nicht selten. Und das ist manchmal auch ernüchternd"
In Schweden haben Kinder auch selbst die Möglichkeit, sich Erwachsenen anzuvertrauen. Die Kinderrechtsorganisation BRIS hat ein Sorgentelefon geschaltet, das jeden Tag besetzt ist. Hier können sich Kinder melden, die Probleme in der Schule, zu Hause oder in der Freizeit haben. Oftmals sind es ernsthafte Probleme, über die Kinder berichten, sagt BRIS-Mitarbeiterin Elisabeth Valinder.
"Viele Kinder erzählen am Telefon oder in unserem Chat, dass sie Gewalt erleben. Nicht nur zu Hause, sondern auch in der Gesellschaft. Die Kinder rufen anonym bei uns an, doch wenn wir solche Geschichten hören versuchen wir, sie davon zu überzeugen uns ihren Namen zu nennen, damit wir ihnen helfen können."
Wer in Schweden wohnt und Kinder hat, dem begegnet die Telefonnummer von BRIS überall. Sie ist auf Schulhefte gedruckt, in den Klassenzimmern hängen Poster und manche Kinder tragen BRIS Armbänder.
Es ist Sommer auf einem Campingplatz in Brandenburg. Der Verein der Pflegeeltern trifft sich hier, man zeltet gemeinsam.
"Einfach mal hingehen, da sitzen schon ein paar rum."
"Immer zum Wohl der Eltern"
Die Familien sind gerade erst aufgestanden. Der Frühstückstisch wird gedeckt, eine lange Tafel bestehend aus verschiedenen Campingtischen. Fünf Familien haben sich an diesem Morgen hier zusammengefunden. Es gibt Kaffee, die Kinder flitzen herum, mindestens 20 sind es.
Die Vierjährige Jolina schreit, wie so oft, sagt ihre Pflegemutter. Die Kleine schlägt um sich und will ständig Aufmerksamkeit.
"Jolina, ja Gewalt, Alkohol, Drogen, sie war auch schon mal in Obhutnahme. Ist dann zurück geführt worden nach Hause im Dezember und kam im Februar wieder zu mir zurück. Und jetzt müssen wir abwarten, was das Gericht entscheidet."
Jolina ist zum zweiten Mal bei ihr in Pflege. Das Kind ist noch verstörter als bei seinem ersten Aufenthalt. Die Pflegemutter hat sich vergeblich gegen die Rückführung des Kindes zu ihren leiblichen Eltern gewehrt. Doch nachdem die 4-Jährige einige Monate bei ihr untergekommen war, bekam der Vater das Kind zurück.
"Dass Kinder Rechte haben, glaube ich nicht wirklich. Immer zum Wohl der Eltern. Ich merk das so bei Jolina wie gesagt, die erst vier Monate bei mir war und ich habe gesagt, Hallo, da ist was nicht richtig! (...) Aber wenn es heißt, die Eltern sind bemüht. Sie ist wirklich auch von heute auf morgen zurückgegangen. (...) Am Freitag habe ich ihre ganzen Sachen nach den vier Monaten im Kindergarten abgestellt, das war 14 Tage vor Weihnachten und dann hat sie mich nie wieder gesehen. Bis wieder der Anruf kam am 12. Februar. Na (..) wie geht´s, die Jolina steht hier, da war ich gerade auf Arbeit. Können Sie sich vorstellen sie wieder zu nehmen? Ja, was soll man da sagen."
Auch die Vereinsvorsitzende hat solche Erfahrungen gemacht, sie hat Anwälte beauftragt, sich beim Jugendamt für die Kinder eingesetzt, in den meisten Fällen erfolglos.
Die Kinder müssen zurück zu ihren leiblichen Eltern, auch wenn klar ist, dass es für das Kind nicht gut ist.
"Und sobald sich bei Gericht die Eltern irgendwie fügen und sagen, ich bemühe mich und sagen ich möchte ja Kontakt, da biste raus, da kannste nichts mehr machen. Wenn die noch einen guten Anwalt haben, dann sowieso nicht. Haben wir schon ganz oft erlebt. Und da hat auch das Jugendamt keine Macht, wenn das Gericht entscheidet - (...) dann gehen die zurück, und dann gehen die in Verhältnisse, wo Du denkst, da möchtest Du nicht groß werden."
Man darf sich nicht aufreiben, lautet das Fazit der Pflegeeltern. Die Zeit, die die Kinder in den Familien verbringen, wollen sie gut gestalten. Etwas davon bleibt. Hoffentlich.
Christine Westerhaus: Ich finde es gut, dass sich in Schweden viele Menschen für die Rechte der Kinder stark machen. Schon von kleinauf werden Kinder von der Gesellschaft als Individuen wahr genommen, um deren Rechte sich der Staat, aber auch Erzieher, Lehrer und Nachbarn kümmern, so weit sie können."
Christine Westerhaus
Christine Westerhaus© privat
Susanne Nessler: Ich war überrascht, wie wenig Rechte Kinder in Deutschland haben. In einer offenen Gesellschaft des 21. Jahrhundert finde ich, wir sollten Kindern viel mehr Mitsprache ermöglichen.
Susanne Nessler
Susanne Nessler© privat
Kinderschutz in der Geschichte beider Länder
Deutschland:
1989 Deutschland ratifiziert die UN-Kinderrechtskonvention. Die vollständige, vorbehaltlose Ratifizierung erfolgt aber erst knapp 20 Jahre später.
1991 Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. "Die Eltern sind als Experten ihrer Kinder" anzusehen". Bedeutet: Elternrecht steht in Deutschland vor Kindesrecht.
2000 Festschreibung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch. Im Grundgesetz werden Kinderrechte jedoch nicht erwähnt.
2012 Das Bundeskinderschutzgesetz tritt als Reaktion auf die tragisch verlaufenen Kinderschutzfälle in Kraft. Es soll eine bessere Koordination der verschiedenen Stellen in der Kinder- und Jugendhilfe schaffen. Kinder erhalten durch dieses Gesetz aber nicht mehr Rechte, sondern mehr Unterstützungsleistungen.
Schweden:
1979 verbietet Schweden die körperliche Züchtigung von Kindern. Seitdem ist es verboten, Schläge oder jegliche Form körperlicher Gewalt als Erziehungsmaßnahme zu nutzen.
1982 tritt eine umfassende Reform des schwedischen Sozialdienstes in Kraft. Seitdem haben Jugendämter mehr gesetzliche Möglichkeiten, Kinder unter Obhut des Staates zu stellen.
1990 ratifiziert Schweden die UN-Kinderrechtskonvention. Viele Artikel sind bereits in die Verfassung aufgenommen.
1993 bekommt Schweden den ersten "Ombudsmann" für Kinderrechte. Er oder sie soll dafür sorgen, dass die Rechte der Kinder bei der Gesetzgebung berücksichtigt werden.
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