Rätselraten über die Homo-Liebe

18.03.2013
Warum lieben Menschen gleichgeschlechtlich? Heinz-Jürgen Voß überzeugen weder die Erklärungsansätze der Humangenetik noch die der Hirnforschung. Er denkt, dass die Deutungen der Homosexualität einem kulturellen Wandel unterliegen und sich daher auch in Zukunft immer wieder ändern werden.
Es war die größte Massenheilung der Geschichte: Als die Weltgesundheitsorganisation 1991 die Homosexualität aus der "Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD)" strich, wurden Abermillionen gleichgeschlechtlich Liebender schlagartig von psychisch schwerkranken zu kerngesunden Menschen.

Homo, hetero, bi - diese starren sexuellen Identitäten entstanden erst im 19. Jahrhundert, wie das neue Buch "Biologie & Homosexualität" von Heinz-Jürgen Voß in bester Foucault‘scher Tradition betont. Als die Psychiatrie die Beichtpraxis der Kirche in medizinische Gewänder hüllte, gerannen sexuelle Betätigungsformen zum angeblichen Wesenskern von Menschen - und die meisten wurden mit Psychiatrisierung und Pathologisierung bedroht.

Der Aufstieg der Biologie zur Leitwissenschaft der Moderne ließ biologische Begründungen aus dem Boden sprießen. Anfang des 19. Jahrhunderts setzten Forscher ganz auf die Kraft der Keimdrüsen. In Experimenten übertrugen sie Hoden-Gewebe von hetero- auf homosexuelle Männer, um diese "umzustimmen". Lesbischen Frauen wurden die Eierstöcke entfernt - der Erfolg beschränkte sich bei beiden Methoden auf Wundinfektionen und erhöhte Sterberaten.

Eine Hormon-Euphorie schloss sich an. Der DDR-Wissenschaftler Günter Dörner spritzte Geschlechtshormone in Ratten und menschliche Probanden, um ihrem Sexualverhalten den erwünschten heterosexuellen Drive zu geben. Nach vielen Experimenten, auch in den USA, hatten die Hormon-Fürsprecher jedoch alles und nichts bewiesen. Niemand vermochte mehr zu interpretieren, warum "heterosexuelle" weibliche Ratten vermehrt "männliches" Aufsteige-Verhalten zeigten, wenn man ihnen "weibliche" Geschlechtshormone zuführte.

Präzise fühlt der Autor auch den jüngsten biologischen Begründungen auf den Zahn. Weder die Hirnforschung (Region INAH3 im Hypothalamus) noch die molekulare Genetik (das "Schwulen-Gen" Xq28) vermögen ihn zu überzeugen. Zu vage ist die Datenlage, zu gewollt die Interpretation. Für naiv hält Heinz-Jürgen Voß allerdings auch die Hoffnung der Szene, mit dem Verweis auf die biologische Natürlichkeit homosexuellen Verhaltens die Diskriminierung einzudämmen. Bislang hat sich das als trügerisch erwiesen - und die Erbgut-versessenen Nationalsozialisten sorgten immerhin für die brutalste Hatz in der Geschichte.

Heinz-Jürgen Voß ist keiner, der populärwissenschaftlich auf die Pauke haut. Auch sein neues Buch führt er nah an fachwissenschaftlichen Gepflogenheiten. Literaturhinweise schieben sich in den Lesefluss, biologisches Fachvokabular erschwert die Lektüre, und seine spannenden Recherche-Früchte präsentiert der Autor auf schmalen 88 Seiten. Dabei transportieren Buch und Autor eine so wichtige Botschaft: Was Menschen tun und wer sie sind, im Bett und anderswo, kann auf so viele Weisen gedacht und interpretiert werden, wie es Kulturen auf der Erde gibt. Homo, hetero, bi - diese und andere starre Zuschreibungen werden eines Tages ebenso von kulturellen Wandlungsprozessen verschlungen werden, wie sie daraus hervor gegangen sind.

Besprochen von Susanne Billig

Heinz-Jürgen Voß: Biologie & Homosexualität - Theorie und Anwendung im gesellschaftlichen Kontext
unrast Verlag, Münster 2013
Taschenbuch, 88 Seiten, 7,80 Euro