Psychogramm des Menschen

21.03.2011
In seinem neuen Buch "Der entgrenzte Mensch" entfaltet der Psychoanalytiker Rainer Funk ein spannendes Psychogramm des Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts - ausgehend vom Beispiel Michael Jacksons.
Als die Pop-Ikone Michael Jackson starb, ging eine Welle kollektiver Trauer um die Welt. Noch heute behaupten eingefleischte Fans, der Star sei gar nicht gestorben, sondern lebe weiter, irgendwo, irgendwie. Michael Jackson, die personifizierte Selbst-Entgrenzung: das Gesicht zur Unkenntlichkeit umoperiert, die Hautfarbe ausgetauscht, Tanzschritte gleich einem Roboter und seine Heimat das Kinder-Traumland "Neverland".

In seinem neuen Buch "Der entgrenzte Mensch" entfaltet der Psychoanalytiker Rainer Funk, ausgehend vom Beispiel Michael Jacksons, ein spannendes Psychogramm des Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Leidenschaftlich seien wir darum bemüht, den Begrenzungen unseres Lebens auszuweichen, sei es durch Drogen, durch das Umhergeistern als Avatar in virtuellen Welten, durch inszenierte und von Persönlichkeitstrainern auf Daueroptimismus getrimmte Pseudo-Ichs oder indem wir statt verbindlicher Beziehungen hunderte von Kontakten im Internet pflegen.

Während frühere Gesellschaften den Unterschied zwischen Märchen und Realität deutlich markierten, wird heute die Fähigkeit zur Realitätsprüfung, eine zentrale Funktion des erwachsenen Ichs, zunehmend außer Kraft gesetzt: Wirklicher als wirklich soll sie sich anfühlen, die virtuelle Welt des Computerspiels, der WWW-Begegnungsplattform für Zwischenmenschliches oder des 3D-Kino-Spektakels.

Was wir gewinnen? Freiheitsillusionen und gute Gefühle, diagnostiziert der Psychoanalytiker. Vor allem gehen wir der Bitternis unserer realen Abhängigkeiten aus dem Weg - Enttäuschungen und unvergnüglichen Kompromissen in ernsthaften Beziehungen, dem Umgang mit den glanzlosen Seiten unserer Persönlichkeit, Alter, Krankheit und Tod. Und hier lauert auch die größte Gefahr, warnt Rainer Funk: Wer stets gute Gefühle sucht, läuft Gefahr, süchtig danach zu werden. Ohne Handy, Facebook & Co wird der Bewohner der Spaßgesellschaft auf sich selbst zurück geworfen. Dort aber gibt es nicht mehr viel; denn die Eigenkräfte zur Gestaltung von Innen- und Außenwelten sind längst verkümmert.

Rainer Funk stellt sich in die Tradition der großen Neo-Psychoanalytiker und Sozialpsychologen des 20. Jahrhunderts, Erich Fromm, Alexander Mitscherlich, Horst-Eberhard Richter. Doch wo jene zielsicher verdrängte gesellschaftliche Schmerzpunkte ans Licht hoben, fehlt Rainer Funks Thesen mitunter die Durchschlagskraft. Stark sind seine Ausführungen immer dann, wenn er seine Thesen empirisch untermauert, etwa beim Thema Ökonomie und Entgrenzung von Arbeitskraft. Andere Passage geraten allzu spekulativ. Wer sich gerne mal auf Facebook mitteilt, lebt noch lange nicht ohne die Herausforderungen echter Freundschaften. Und wer sein Gefühlsleben durch Bungee-Jumping aufpeppt, steht noch lange nicht vor dem emotionalen Nichts, wenn der Extremsport mal ausfällt.

Und so liegt über dem Buch selbst der Hauch mangelnder Bodenhaftung. So dicht und facettenreich sich der Beitrag des Autors liest - mehr Zahlen, Daten, Fakten hätten nicht geschadet.

Besprochen von Susanne Billig

Rainer Funk: Der entgrenzte Mensch - Warum ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht
Gütersloher Verlagshaus, 240 Seiten, gebunden, 19,99 Euro