Premiere in München

Zerfleischen bis zum totalen Krieg

Norman Hacker (George) und Bibiana Beglau (Martha) in "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" von Edward Albee am Münchner Residenztheater
Norman Hacker und Bibiana Beglau in "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" am Münchner Residenztheater © Münchner Residenztheater / Foto: Andreas Pohlmann/dpa
Von Christoph Leibold · 18.09.2014
Das Stück ist die Mutter aller Zimmerschlachten: "Wer hat Angst vor Virginia Woolf". Lebenslügen werden zerfleddert, Beziehungen irreparabel beschädigt. Der als unverwüstlich geltende Klassiker weist nach über 50 Jahren im Spielplandauereinsatz allerdings Gebrauchsspuren auf.
Martin Kušej geht das Problem am Münchner Residenztheater frontal an. Die Bühne von Jessica Rockstroh meidet jeden Wohnzimmerrealismus. Eine gleißend weiße Wand in voller Bühnenbreite ist bis knapp vorne an die Rampe gerückt. Davor bleibt den Darstellern nur ein schmaler Korridor. Keine Möbel, kaum Requisiten. Das schafft Klarheit und Konzentration.
Vor der Spielfläche breitet sich ein Scherbenfeld aus: kaputte Whiskeygläser und Schnapsfalschen, die für das stehen könnten, was zwischen den beiden Hauptfiguren des Stücks schon zerbrochen ist, und was im Laufe der Stückhandlung noch in die Brüche gehen wird. Er, George, ist Historiker an einem Kleinstadtcollege, mittleren Alters und mit bestenfalls mittelmäßiger Karriere; sie, Martha, die Tochter des Direktors, die sich mehr vom Leben erwartet hat als ein Dasein an der Seite eines Provinz-Professors.
Zu Beginn von Albees Stück fummeln George und Martha nach der Rückkehr von einem Uni-Umtrunk den Wohnungsschlüssel ins Türschloss. Am Residenztheater dagegen nestelt Martha erstmal am Hosentürchen von George herum. Wenig später schmeißt sie sich an seine Hals - aber man weiß nicht so recht: Wirft er sich auf sie oder reißt sie ihn um?
Ein vielsagendes Bild, das von zwei Menschen erzählt, die sich abstoßen und doch nicht von einander lassen kann, wobei ein Sohn, den sich die beiden erfunden haben, die Fliehkräfte, die sie auseinander treiben, ausgleicht. George wird am Ende des Stücks dieses gemeinsame Hirngespinst umbringen.
Schmerzpunkte aufgedeckt
Als Zeugen dieses Exorzismus sind auf einen Absacker Nick und Honey geladen, ein junges Pärchen, neu am College, das im Laufe der Nacht zum Kollateralschaden im Ehekrieg wird. Johannes Zirner gewinnt Profil, indem er seinem Nick gar nicht erst den rollenüblichen schleimigen Anschein eines Karrieristen gibt, sondern das kühl berechnende Wesen seiner Figur unverhohlen vor sich her trägt. Nora Buzalka bewegt sich da schon eher in der Aufführungskonvention. Als Nicks blasses Weibchen Honey ist sie das gewohnte Dummchen, das mit Kicher- und Kotzanfällen für Comic Relief sorgt.
Den allerdings gibt es bei Kušej deutlich dosierter als bei anderen Regisseuren des Stücks. Die drei Aktes des Stücks sind hier, durch knappe Blackouts unterbrochen, in Szenen zerlegt. Das sorgt für zusätzliche Verdichtung und Schärfung. Die süffisantesten Pointen sind konsequent gestrichen, und nur die fiesesten übrig geblieben. Manchmal befällt einen der Phantomschmerz, weil man grandiose Dialoge vermisst. Bald aber ist man verblüfft, wie zielsicher Martin Kušej die Schmerzpunkte des Stücks aufdeckt.
Rache des Gedemütigten
Natürlich haben auch die Hauptdarsteller ihren Anteil an diesem großen Erfolg, zunächst natürlich Bibiana Beglau, deren raumgreifende Präsenz ebenso sehr ihrem Naturell entspringt, wie sie zu ihrer Rolle als Martha passt, mit deren ganzer verzweifelten Verbrauchtheit und kaputten Grandezza sie ihre Kollegen anfangs an die Wand zu spielen droht, selbst Norman Hacker als George. Doch während Martha impulsiv ist, ist George ein Brüter, der lange braucht, um zum Siedepunkt zu kommen. Dann freilich fällt die Rache des Gedemütigten grausam aus.
Norman Hackers George aber lebt sie nicht genüsslich aus. Die Pein, die es ihn kostet, sich die Liebe aus dem Leib zu reißen, so wie man ein krebsbefallenes Organ aus dem Körper schneidet, ist im jederzeit anzusehen.
Eine Qual, die umso deutlicher wird, als Martin Kušej George und Martha auch einen Augenblick großer Zärtlichkeit gönnt. Ehe sie einander den totalen Krieg erklären, liegen die beiden eng aneinander geschmiegt, sie krault liebevoll sein Haar, er deckt mit seinem Jackett behutsam ihren nackten Oberkörper zu, mit dem sie sich später Nick an die Brust werfen wird. Ein verzweifelt schöner Moment, der erst so recht eigentlich klar macht, wieso diese beiden Menschen so sehr aneinander leiden.
Martin Kušej hat es sich also nicht im pointen-versessenen Edel-Boulevardtheater bequem gemacht. Das macht seine Inszenierung groß. Die erste Schlacht der Münchner Theatersaison ist brillant geschlagen.
Informationen des Münchner Residenztheaters zur Inszenierung von "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?"