Popkultur, Literatur & Theorie

Sinnsuche in den 70er-Jahren

Von Helmut Böttiger · 18.06.2015
Die 68er-Bewegung mündete in eine politisierte Zeit, in der Lebensentwürfe und Systeme hinterfragt wurden. Mehrere Bücher beschäftigen sich mit den 70er-Jahren, weil es wieder eine Sehnsucht nach Alternativen gebe, sagt Literaturkritiker Helmut Böttiger.
Die 70er-Jahre als Jahrzehnt der Sehnsucht und der Politik: in den Mittelpunkt könnte man durchaus den fulminanten und verrückten Roman von Frank Witzel stellen. Es ist der erste literarische Text, der die Erfahrungen der 70er-Jahre-Generation als großen Epochen-und Zeitroman darstellt. Das ist das Außerordentliche. Denn diese Möglichkeit schien mit dem Auftreten dieser Generation ein und für allemal verschwunden zu sein.
Ende der 60er wurde man in der Pubertät zum ersten Mal in ganzer Linie von Pop sozialisiert, das Lebensgefühl entsprach einer Single, die zwei oder drei Minuten dauert. Rainald Goetz hat dieses Generationserlebnis am furiosesten auf den Punkt gebracht: die Apotheose des Augenblicks. Das verträgt eigentlich keinen Roman mehr mit langen, gewundenen Sätzen und verwirrenden Handlungsabläufen.
Witzel legt zum ersten Mal in einem Roman ein Archiv all dessen an, was diese Generation geprägt hat: Pop, Theorie, Konsum.
Foucault und Derrida
Es ist interessant, dass durch die Beschäftigung mit Popmusik auch eine Beschäftigung mit Theorie einhergeht. Foucault und Derrida, der französische Poststrukturalismus schienen den Standortbestimmungen viel eher zu besprechen als der klassische Marxismus und klassische Politikvorstellungen. Das unterscheidet diese Generation von der 68er-Generation.
Philipp Feltsch hat das am Beispiel des Merve-Verlags detailliert aufgezeigt. Der Erfahrungsbericht von Ulrich Raulff gehört auch in diesen Zusammenhang. Für die jüngere Generation ist die Zeit der 70er, als es noch um radikale Politik- und Lebensvorstellungen ging, plötzlich ein Mythos. Die RAF, die Sackgasse des Terrorismus – das erscheint jetzt alles als ästhetisch stark aufgeladenes Sujet. Was Feltsch theoretisch beschreibt, unternimmt die amerikanische Autorin Rachel Kushner in einem Roman: hier steht vor allem die Faszination der Roten Brigaden in Italien im Vordergrund.


Rachel Kushner: "Flammenwerfer"
Rowohlt, März 2015
560 Seiten, 22,95 Euro

Philipp Feltsch: "Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte"
C.H.Beck, April 2015
327 Seiten, 24,95 Euro


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