Politologe: Genossenschaftsprinzip hat überdauert

Andreas Heyer im Gespräch mit Joachim Scholl · 08.01.2010
Die utopischen Frühsozialisten Charles Fourier und Robert Owen hätten in der Zeit, als sich der Kapitalismus entwickelte, gezeigt, dass es möglich ist, anders zu leben, sagt der Politologe Andreas Heyer. Von ihren Ideen seien das Genossenschaftsprinzip und Formen solidarischen Miteinanders geblieben.
Joachim Scholl: Im Studio begrüße ich nun den Politologen Andreas Heyer. Die Sozialutopien der Neuzeit sind sein Spezialgebiet. Guten Tag, Herr Heyer!

Andreas Heyer: Ja, guten Tag!

Scholl: Am Ende sollte sogar das Meer süß schmecken. Wenn wir heute von einem Utopiker wie Charles Fourier hören, schütteln wir eigentlich nur noch amüsiert den Kopf. Sie auch?

Heyer: Nein, das kann man nicht so einfach sagen. Also dazu ist vielleicht erst mal anzumerken, dass Fourier ja nicht nur über sozusagen seine fantastischen Ideen definiert werden sollte, sondern eben nicht vergessen werden sollte, dass hinter dem Ganzen ein äußerst ernsthafter politischer und philosophischer Anspruch stand, der eben darauf abzielte, tatsächlich das beste und größte Glück für alle verwirklichen zu können.

Scholl: Was fasziniert Sie an diesen Frühsozialisten Fourier und Owen?

Heyer: Letztlich geht es ja beiden um die Idee, dass, solange die komplette Gesellschaft nicht geändert werden könnte, man eben aber zumindestens die Möglichkeit habe, einzelne Teile zu reformieren, also zum Beispiel kleine Gesellschaften oder kleine Gemeinschaften zu gründen, wie im Fall von Owen zum Beispiel, um eine Fabrik herum eine kleine Gemeinschaft aufzubauen, die dann eben nach bestimmten Prinzipien, also zum Beispiel Gleichheit und solidarischem Verhalten aufgebaut ist.

Scholl: Robert Owen hat mit seinem Genossenschaftsmodell ja eine sehr realistische, pragmatische Utopie verwirklicht. Mit seiner Kolonie New Harmony in den USA ist er am Ende doch gescheitert. Warum eigentlich?

Heyer: Ja, das sind letztlich zwei Paar Schuhe. Also in England hat er sozusagen eine funktionierende Fabrik übernommen und die dann einfach weiter ausgebaut. Also da hatte er tatsächlich auch die Möglichkeiten zur industriellen Entfaltung, hatte eben die Möglichkeit, Geld zu akkumulieren und das dann auszugeben beziehungsweise umzuschichten. In Amerika hat er eben diese Möglichkeiten nicht mehr gehabt. Er hat zwar seinen englischen Besitz verkauft und das Geld in Amerika investiert, aber dort gab es eben nicht diese gewachsenen Strukturen zum Beispiel der Fabrik und es gab eben auch nicht das Personal, was er letztlich in England hatte.

Scholl: Viele historische Beispiele von Kommunen zeigen ja, dass die utopisch-visionären Pläne in der Regel dann nicht aufgehen. Lässt sich daraus ableiten, Herr Heyer, dass man Utopien eigentlich nicht leben kann im Wortsinn?

Heyer: Na, Utopie, das Wort ist ja ein Fantasiewort aus dem Griechischen und setzt sich aus U und Topos zusammen, also heißt eigentlich Nicht-Ort und Nirgend-Ort, und damit ist ja schon gesagt, dass Utopien eigentlich nicht verwirklicht werden können. Und die meisten Utopisten haben die Grenze auch immer in ihre schriftlichen Utopien eingezogen und wollten es gerade nicht, dass die Utopien verwirklicht werden.

Scholl: Welche sozialgeschichtliche Bedeutung würden Sie denn Leuten wie Fourier und Owen zuweisen?

Heyer: Gerade Fourier und Owen haben im Rahmen des utopischen Frühsozialismus die Geschichte des 19. Jahrhunderts ganz eindeutig an wesentlichen Teilen geprägt und haben eben auch in einer Zeit gezeigt, als sich der Kapitalismus entwickelte und auf Manchester zusteuerte, dass es möglich ist, sehr wohl anders zu leben.

Scholl: Bleiben wir mal bei diesem Modell der Kommunen. Die Blütezeit kann man ja vielleicht in den 70er-Jahren verorten, also Öko, freie Liebe, alternatives Leben – allein in den USA hat man damals über 2000 Kommunen gezählt, Charles Fourier wäre vermutlich begeistert gewesen. Was haben diese Konzepte eigentlich für unsere Gesellschaft bewirkt? Ist das nur noch eine romantische Hippieerinnerung oder gibt es da doch Faktoren, da man sagen könnte, ja, das wurde dadurch ausgelöst?

Heyer: Die Hochzeit der Kommunen lag im 19. Jahrhundert, wo es eben die Gründungen gab in Afrika, in Europa, in Nordamerika et cetera. Und zu sozusagen den 60er-, 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts lässt sich letztlich genau dasselbe anmerken wie auch schon zu den utopischen Frühsozialisten, dass es auch da darum ging, ja alternative Lebensformen auszuprobieren. Und letztlich, wenn wir heute darauf zurückblicken, sehen wir einfach, dass das nicht funktioniert hat. Wahrscheinlich ist einer der Gründe dafür, dass der Mensch eben noch nicht auf Dauer bereit ist, sozusagen alles zu teilen und komplett auf Eigentum oder Ähnliches zu verzichten. Also irgendwann will man dann wahrscheinlich doch was besitzen, entweder einen eigenen Partner oder ein Auto oder andere Sachen.

Scholl: Wenn wir mal das große politische Bild in den Blick nehmen, könnte man sagen, der Kommunismus war das wohl folgenreichste utopische Experiment, Und nach seinem Ende hat man ja auch das Ende der Utopien postuliert. Was meinen Sie, sind wir an einem Endpunkt dieser Geschichte?

Heyer: Na ja, dazu müsste man anmerken, dass das Ende der Utopie und das Ende des Sozialismus immer bloß von konservativer Seite postuliert wurde und behauptet wurde, indem man genau beide Sachen aneinander gekoppelt hat, also gesagt hat, das, was in Russland passiert ist, ist eine verwirklichte Utopie, und in dem Moment, wo eben der real existierende Sozialismus scheitere, sei auch die Utopie gescheitert. Aber dagegen lässt sich intervenieren, dass das utopische Denken ja immer emanzipatorisch nach vorn gegriffen hat, also unheimlich viele der Errungenschaften, die wir heute haben und die für uns selbstverständlich sind, sind eben erst im utopischen Denken überhaupt angedacht worden. Und solange nicht 100 Prozent aller Menschen komplett glücklich und zufrieden sind, solange wird es auch utopisches Denken geben.

Scholl: Was ist eigentlich von den Ideen von Charles Fourier und Robert Owen geblieben?

Heyer: Was ganz eindeutig überdauert hat, ist natürlich das genossenschaftliche und solidarische Denken, dass also mehrere Menschen zusammen immer Möglichkeiten finden können, sich in einer für sie eigentlich feindlichen Umwelt zu behaupten, also eben das Genossenschaftsprinzip, was ja heute auch noch existent ist, Formen solidarischen Miteinanders und Ähnliches. Also das hat den utopischen Frühsozialismus definitiv überdauert und das wird uns auch die nächsten Jahre noch begleiten.

Scholl: Brauchen wir Utopien, Herr Heyer?

Heyer: Für mich kann ich sagen, dass Utopien sehr wichtig sind, eben weil sie sozusagen in der Lage sind, über den Status quo hinaus zu denken und andere Formen des Zusammenlebens auszumalen und zu imaginieren.

Scholl: Der Politologe und Utopieforscher Andreas Heyer. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Heyer!

Heyer: Ja, bitte, keine Ursache!

Scholl: Und damit haben wir die Schlusskurve unserer utopischen Reihe hier im "Radiofeuilleton" genommen. Die Zielgerade bestreiten wir mit Ihnen, unseren Hörern. Morgen früh ab 9 Uhr können Sie sich beteiligen und mitdiskutieren über Utopien und Visionen der Zukunft. Zwei Stunden lang werden der Physiker und Zukunftsforscher Karl-Heinz Steinmüller und der Medienwissenschaftler Norbert Bolz Ihnen für Ihre Fragen zur Verfügung stehen, hier im "Radiofeuilleton".