Politologe: Gauck-Euphorie zeigt Krise der Parteiendemokratie

Albrecht von Lucke im Gespräch mit Joachim Scholl · 30.06.2010
Dass der Kandidat der Opposition für das Bundespräsidentenamt, Joachim Gauck, in der letzten Zeit soviel Zuspruch erhalten hat, sei auch ein Ausdruck der großen Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Parteiendemokratie. Doch die Sehnsucht nach einem "Allesregler", der quasi über den Parteien stehe, sei hochgefährlich, sagt der Politologe Albrecht von Lucke.
Joachim Scholl: In drei Stunden schreiten die Delegierten der Bundesversammlung zur Abstimmung darüber, wer der nächste Bundespräsident wird. Lautstark wie kaum je zuvor ist in den letzten Wochen öffentlich debattiert worden, vor allem über die Kandidaten Christian Wulff und Joachim Gauck, aber auch über die Wahl im Grundsatz, und man hat durchaus den Eindruck, als ob es dabei mehr um die Zukunft der Koalition und der Kanzlerin geht als darum, ein neues Staatsoberhaupt zu wählen. Im Studio begrüße ich nun den Politologen Albrecht von Lucke. Schönen guten Morgen!

Albrecht von Lucke: Guten Morgen, Herr Scholl!

Scholl: Bei jeder Bundespräsidentenwahl, Herr Lucke, hat der Parteienproporz, mithin die Mehrheit der Regierungskoalition, bislang den Ausschlag gegeben. Warum wird dieses Prozedere dieses Mal so sehr angezweifelt, dass selbst ein CDU-Mann wie der ehemalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf fordert: Gebt die Wahl frei! Was ist da passiert?

von Lucke: Diese Wahl ist durch eine, ich würde sagen, besondere Ironie gekennzeichnet, nämlich zunächst die Tatsache, dass wir es diesmal erstmalig mit zwei liberal-konservativen Kandidaten zu tun haben – und das macht die Wahl zu etwas, was man als Präzedenzfall bezeichnen kann –, zunächst mal eben quasi von ... Kandidat von Merkels Gnaden ausgewählten Christian Wulff, den niedersächsischen Ministerpräsidenten, aber dann als gewissermaßen parteipolitische Volte der Opposition der Kandidat Joachim Gauck als unabhängiger Kandidat, der aber gleichermaßen für die liberal-konservative Seite ansprechbar ist. Und daher resultiert eine große Konfliktlage all derer innerhalb der schwarz-gelben Koalition, die der Meinung sind: Wir sind mindestens so sehr daran interessiert, Joachim Gauck zu wählen – und daher dieser Aufruf von Kurt Biedenkopf, gebt die Wahl frei.

Denn wir haben die Ironie, dass die Schwäche der Regierung dazu geführt hat, denn die spielt natürlich hier auch mit rein, dass Angela Merkel und die schwarz-gelbe Koalition so dezidiert auf Zustimmung zu ihrem Kandidaten gesetzt hat, dass mittlerweile heute bei der Bundesversammlung, die ja weit über die Parteipolitiker normalerweise zusammengesetzt ist, nur und fast nur ausschließlich auf Parteipolitiker gesetzt worden ist, sodass letztlich der Eindruck entsteht: Die Parteipolitiker – aus Angst davor, dass sich gewissermaßen ein unsicherer Kantonist aus dem Volk anheischig machen könnte, doch Joachim Gauck zu wählen –, diese Parteipolitiker machen sich gewissermaßen den Staat zum Beute.

Scholl: Verblüffend ist diese einhellige Medienmeinung, also: Ebenso einmütig wie die Kritik am Wahlvorgang ist die Kritik am Kandidaten der CDU und FDP, Christian Wulff. Von der "BILD"-Zeitung über die "FAZ", den "Spiegel" bis hin zur "Zeit" zeigt sich hier eine geschlossene Front gegen Wulff und für Joachim Gauck. Wie erklären Sie sich das? Ist das vielleicht auch eine Medienhysterie, die Sensation machen will?

von Lucke: Nein, das hängt zusammen mit einer ganz großen Unzufriedenheit, die gewissermaßen von der Bevölkerung sich auch in der Medienlandschaft widerspiegelt, einer großen Unzufriedenheit mit der großen Krise, ich nenne es mal, der Parteiendemokratie. Denn wir haben es momentan ja mit einer mehrfachen Krise zu tun: Es ist einerseits ein unwahrscheinlich schlechter Anfang der schwarz-gelben Koalition, ein Anfang, wie wir ihn in dieser Weise bundespolitisch gar nicht kennen in seiner fehlenden Konzepthaftigkeit, also, wir sind ja gewissermaßen ... mit einer Koalition ohne Geschäftsgrundlage haben wir es zu tun, denn alles, was Schwarz-Gelb andachte, Steuersenkung, ist mittlerweile hinfällig geworden. Das ist das Erste.

Dann haben wir es aber daneben mit einer viel grundsätzlicheren Krise der Parteiendemokratie zu tun. Wenn beispielsweise selbst die Kanzlerin mittlerweile davon spricht, dass die Politik bemüht sein muss, das Primat der Politik sich zurückzuerobern gegenüber den Finanzmärkten, dann zeigt das, dass wir es mit einer enormen Schwäche der Parteien zu tun haben.

Und dann kommt drittens eine neue Schwächung der Parteipolitiker noch hinzu, nämlich die Rücktritte, die wir in letzter Zeit erlebt haben, also, eine gewisse Reihung von Rücktritten, die ja dazu führt, dass wir fast einen Ausfall einer ganzen Generation innerhalb der CDU erleben: von Koch über Rüttgers, früher war es schon Friedrich Merz, dann natürlich aber vor allem auch der große Einschnitt des Rücktritts von Horst Köhler. Diese Tatsache bedeutet natürlich auch eine systemische Schwächung der Parteipolitik insgesamt, sodass man sich fragen muss: Können die Parteien, sind sie noch in der Lage, diese Regierung, können sie diese Politik überhaupt noch leisten? Und daher resultiert ein enormes Parteienressentiment, das, glaube ich, auch sehr stark in die Medien übergeschwappt ist.

Scholl: Ich meine, gegen die Person von Christian Wulff ist, so gemessen am Profil früherer Bundespräsidenten, erst mal kaum etwas einzuwenden. Er ist ein smarter Typ, weltoffen, seine Beliebtheit beim Volk hat er als Ministerpräsident unter Beweis gestellt. Geht es am Ende aber gar nicht um Persönlichkeiten, sondern um demokratische Prinzipien?

von Lucke: Natürlich, es geht auch ganz primär darum. Es geht um die Frage: Wie wird jemand gekürt? Wobei man eben tatsächlich sagen muss: Dieser Vorfall ist nichts Besonderes in der Geschichte der bundesrepublikanischen Parteien. Wir haben es immer damit zu tun gehabt, dass die Mehrheit im Bundestag, regierende Mehrheit, den Kandidaten gekürt hat, der nach ihrer Fasson die richtige Politik machen würde. Deswegen ist es mit Christian Wulff keineswegs so – und man muss wirklich daran erinnern, er hat zwei Wahlen gewonnen –, dass wir es mit einem durchaus honorigen Kandidaten zu tun haben.

Aber es sind eben die unterschwelligen Anfragen an die Parteiendemokratie, die einem Ressentiment Vorschub leisten, wo man regelrecht den Eindruck hat ... In Joachim Gauck fand die Bevölkerung, fand aber auch die Medienlandschaft so etwas wie einen Wunderheiler, der plötzlich mit einem Wort, dem großen Wort der Freiheit, dieses Land all seiner Probleme beraubt gewissermaßen. Man ist fast an so etwas wie Novalis erinnert, das große Wort, das Diktum, von dem einen Wort, worauf das hin alle Probleme wegfliegen.

Das ist dieser Gedanke und dieses romantische Gefühl, es könnte mit der Kraft, bloßen Kraft des Wortes könnten die großen Probleme gelöst werden. Das ist durchaus auch etwas, was Herr Gauck als eine antipolitische Stimmung begriffen hat und durchaus sich dezidiert davon absetzte zum Teil. Aber natürlich wurden all diese Projektionen auf ihn gerichtet, und die haben dazu geführt, dass sehr viel an Ressentiment zum Ausbruch kam.

Wenn beispielsweise in der "BILD"-Zeitung davon gesprochen wurde regelrecht, in den Parteien sitzen die hässlichen Deutschen – das war also mit einer Intention, die also schon wirklich ganz vehement Parteienressentiment schürte –, da sitzen die hässlichen Deutschen, da sitzen die Neider, also der Eindruck erweckt wurde, das sind alles nicht mehr ... Es ist eine reine Machtelite, von der wir regiert werden. Und das weist natürlich auf ein grundsätzliches Problem eines enormen Abstands von Parteien und Bevölkerung.
Scholl: Der Bundespräsident wird heute gewählt, wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Politologen Albrecht von Lucke. Sie haben in einem Essay, Herr Lucke, nachzulesen in der Zeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik" den Ausgang der Wahl als "Lose-Lose-Situation" dargestellt. Warum wird es Ihrer Ansicht nach nur Verlierer geben?

von Lucke: Weil ich glaube, dass auch das parteipolitische Kalkül der Opposition, in dem Falle also von Rot-Grün ... also, in dem Falle ist es ja sogar mehr ein Vorschlag, wenn ich es richtig gelesen und interpretiert habe, von Jürgen Trittin gewesen, der also sagte, wir können mit Herrn Gauck gewissermaßen in die bürgerliche Phalanx eindringen und dort einen Kandidaten vorschlagen, der, was sich ja jetzt auch zeigt, das sogenannte bürgerliche Lager, also schwarz-gelb, aufmischt und zu einer Spaltung führt. Diese Rechnung – meines Erachtens geht sie langfristig betrachtet nicht auf, denn alle Parteien leiden darunter, dass der Zuspruch zur Parteiendemokratie, wie er jetzt noch mal zum Ausbruch gekommen ist, deutlich zurückgeht.

Das heißt also auch, das Konzept oder die Kalkulation von Sozialdemokraten und Grünen ist eine hochgefährliche. Worauf es jetzt vielmehr ankäme, wäre, zu sagen: Was schließen wir denn aus dieser Wahl? Offensichtlich ist ein großes Bedürfnis an Anteilnahme da, das zeigt sich auch an der Anteilnahme am Kandidaten Gauck. Aber man muss es kanalisieren. Es wäre die Frage: Wie kriegt man das wieder sukzessive in die parteidemokratischen Strukturen internalisiert?

Scholl: Aber werden denn die SPD und die Grünen bei einer stattlichen Anzahl von Stimmen – eventuell auch einige aus dem Regierungslager – für Joachim Gauck nicht auch triumphieren in dieser Situation?

von Lucke: Kurzfristig sicherlich. Man wird sagen: tolles strategisches Kalkül, wobei ich glaube, dass es eine ganz sichere Wahl werden wird. Also, ich bin der Ansicht, auch das wird heute nicht aufgehen, man wird sehen, ob es der erste Wahlgang ist, wofür vieles spricht, oder auch der zweite: Herr Wulff wird gewählt werden. Das ist auch insofern sehr nachvollziehbar, weil die Sorge natürlich – wir sprachen am Anfang darüber –, die Sorge der Koalition, wenn denn dieser Kandidat als der Kandidat der Koalition nicht durchkommen wird, wird es eine dramatische Reputationskrise der Regierung geben. Diese Frage liegt auf der Hand und es werden gerade die Abgeordneten der FDP, die sowieso mit an der Grenze der 5-Prozent-Klausel momentan lavieren, sie werden einen Teufel tun, ihren Kandidaten Herrn Wulff nicht zu wählen und durchfallen zu lassen. Also, von daher wird das meines Erachtens eine ganz sichere Sache. Man wird natürlich kurzfristig noch mal zählen.

Was aber bleiben wird von dieser ganzen Frage, weil bleiben wird, dass man plötzlich mit einem Phänomen Gauck zu tun hatte, das sämtliche Parteien sehr, sehr schlecht ausgesehen hat, dass wir es plötzlich eben, wie ich sagte, mit dem sogenannten Wunderheiler, Erlöser plötzlich zu tun hatten im Raum – und das wirft Anfragen auf, das wirft Anfragen an die demokratische Situation des Landes auf, die auch durchaus gefährlich sind. Da ist so etwas da wie Sehnsucht nach dem großen Erlöser, da ist so etwas da wie die Frage: Gibt es so etwas wie die Verkörperung des Ganzen? Es war immer die Rede davon: Das ist der Mensch, der das Ganze personifiziert, der also über den kleinen Dunst der Parteien hinausgeht, also durchaus erinnerlich an das alte Wort von Kaiser Wilhelm: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.

Und diese Frage wirft die Sorge auf, dass wir es, gerade in der Diskussion auch um die Frage Direktwahl, mit einer Sehnsucht nach einem die Parteien quasi ins Abseits stellenden Allesregler zu tun bekommen können. Und das ist eine ganz große Anfrage an alle Parteien. Deswegen glaube ich, das kleine Kalkül der Parteien geht da nicht auf.

Scholl: Aber es ist ja auch interessant in dem Zusammenhang, wenn Sie schon sozusagen sprechen vom Novalis – also, es braucht nur das Zauberwort –, also vom Wunderheiler, dass plötzlich das Amt des Bundespräsidenten so überhöht wird als geradezu Kern der nationalen Integrationskraft. Also: Überfrachtet man den künftigen Bundespräsidenten, also jetzt Herrn Wulff, nicht vielleicht auch schon mit dieser Rolle, dass er plötzlich so eine Lichtfigur der Nation werden muss?

von Lucke: Absolut, das ist genau das Richtige. Und ich kann sogar sagen, man könnte es noch ironischer drehen: Der eigentliche Gewinner dieser Wahl wird Herr Gauck sein, denn Herr Gauck hatte einen großartigen Auftritt über einen Monat, alle haben sich auf ihn fokussiert, alle haben gesagt, was hätten wir es mit einem wunderbaren Präsidenten zu tun bekommen, wenn er denn gewählt worden wäre, werden wir heute sagen müssen. Aber er hätte den Beweis gar nicht zu erbringen.

So, das heißt: Er wird gar nicht in die fatale Lage geführt, dass natürlich auch nach geraumer Zeit auch seine Worte alle schal geklungen hätten, denn jeder weiß: Auch mit dem großen Diktum der Freiheit ist dieses Land nicht aus seiner Krise zu führen. Wir haben ganz andere Probleme, und so schön es gewesen wäre, einen Menschen absoluter Wortmächtigkeit zu haben: Das hätte nicht die Lösung der Probleme bedeutet.

Herr Wulff hat eine ganz andere Chance, Herr Wulff hat die große Chance – und das, fand ich, klang in seinen Äußerungen durchaus an: Er könnte derjenige sein, der das ernst macht, mit dem ernst macht, was er angekündigt hat, dass er tatsächlich versucht, einen Diskursraum zu eröffnen, dass er versucht, Kräfte heranzuziehen, die zu Lösungen kommen, also ein Gespräch mit der Bevölkerung herzustellen. Er ist nicht der große Mann des Wortes, das würde er gar nicht behaupten wahrscheinlich.

Aber die Möglichkeit von daher, vielleicht mit kleinerer Münze dieses Amt zu beginnen, das tatsächlich, genau wie Sie sagen, eben nicht das Amt der Heilung des Staates bedeutet, sondern eigentlich der Repräsentation, aber vielleicht auch der Kommunikation mit der Bevölkerung – das ist die große Chance, denke ich.

Und von daher ist es, glaube ich, ganz gut – und man merkt das auch in den Medien mittlerweile schon –, wenn mittlerweile das Amt wieder ein bisschen tiefer gehängt wird, und man kann sehr hoffen, dass diese Rufe nach der Direktwahl, dass diese ein wenig verklingen, denn das, muss ich sagen zum Schluss vielleicht, das ist ein ganz ironisches oder wäre ein ganz ironisches Erbe der kurzen Ära Köhler. Denn Herr Köhler hat nach seiner zweiten Wahl sofort gesagt: Wir müssten den Kandidaten, den Präsidenten das nächste Mal direkt wählen.

Damals war eine völlig einhellige Ablehnung dieser Meinung – völlig zu Recht. Nachdem er zurückgetreten ist und plötzlich der Kandidat Gauck aus dem Hut gezaubert wurde, war Bereitschaft da, zu sagen: Jetzt wählen wir direkt. Und wenn es jetzt gewissermaßen ob des Rücktritts vom Herrn Köhler tatsächlich dazu käme, dass das ernsthaft diskutiert wäre, kontra dem Willen unseres Grundgesetzes, dann wäre das, meine ich, ein ganz fatales Ergebnis.

Scholl: Heute Mittag steht sie an, die Wahl zum Bundespräsidenten. Wir werden selbstverständlich in unserem Programm mit dem Beginn der Abstimmung fortlaufend berichten, dann auch im Radiofeuilleton am Nachmittag. Und wir haben hier die Einschätzungen des Politologen Albrecht von Lucke gehört, besten Dank für Ihren Besuch und das Gespräch!

von Lucke: Herzlichen Dank, Herr Scholl!
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