Plädoyer für die Gesamtschule

Moderation: Gabi Wuttke · 28.05.2008
Der Erziehungswissenschaftler Peter Struck hält eine Verlängerung der Grundschulzeit für sinnvoll. Die Aufteilung der Schüler nach der vierten Klasse führe dazu, dass die Schwachen in der Hauptschule "im eigenen Saft schmoren" müssten und von den mitreißenden Effekten der Leistungsstärkeren abgekoppelt würden.
Gabi Wuttke: "Da die Bestimmung eines Kindes oft sehr lange unentschieden bleibt, so bringen sie den Nachteil hervor, dass leicht Verwechslungen vorgehen, der künftige Gelehrte zu lange in Mittelschulen, der künftige Handwerker zu lange in Gelehrtenschulen verweilt und daraus Verbildungen entstehen." So schrieb einst Wilhelm von Humboldt und plädierte damit für eine Einheitsschule. Seit 30 Jahren gibt es sie in Skandinavien mit den allerbesten Noten, wie Pisa und Iglu beweisen. Warum aber hat sich die Gesamtschule in Deutschland nie richtig durchgesetzt? Warum greift die Politik nur mit spitzen Fingern auf die alte Idee zurück? – Mit dem Erziehungswissenschaftler Professor Peter Struck möchte ich jetzt darüber sprechen. Guten Morgen!

Peter Struck: Guten Morgen Frau Wuttke.

Wuttke: Welche Argumente haben Sie für Gesamtschulen in Deutschland?

Struck: Deutschland und Österreich sind die einzigen vergleichbaren Länder, die eine sehr kurze, nämlich nur vierjährige Grundschule haben. Weltweit üblich sind acht, neun, zehn oder gar zwölfjährige Grundschulen. Zwölfjährige Grundschulen haben wir in Deutschland auch schon immer gehabt. Das sind die Waldorfschulen, aber die sind Privatschulen. Das entscheidende Argument ist heute – das hat uns auch Pisa bestätigt -, dass wir die schwachen und schwierigen Schüler schon mit elf Jahren, also nach der Klasse IV, von den mitreißenden Effekten der guten beim Lernen abkoppeln und ab dann zum Beispiel in Hauptschulklassen im eigenen Saft schmoren lassen. Was sollen sie denn voneinander Positives lernen? – Also wenn Schüler länger zusammen bleiben, müssen die guten gar nicht benachteiligt sein. Das heißt natürlich, man muss es mit dem Unterricht anders machen. Schüler lernen von Mitschülern sowieso etwa doppelt so viel wie von noch so guten Lehrern. Also müssen wir die guten Schüler auch dazu einsetzen, den schwachen etwas zu erklären, denn durch Erklären lernt man viereinhalb mal so viel wie durch Zuhören. Und immer dann, wenn Länder sehr viel längere Grundschulen haben – und diese Tendenz gibt es ja auch in Deutschland; in Schleswig-Holstein und Berlin hat man jetzt die zehnjährige Gemeinschaftsschule geschaffen -, dann schneiden Schüler besser ab. Diese Tendenz setzt sich auch zunehmend in Deutschland durch, auch zum Beispiel in Sachsen und in Nordrhein-Westfalen.

Wuttke: Aber Kritiker werden ja nicht müde – Sie sprechen im Sinne von Wilhelm von Humboldt – zu wiederholen, Gesamtschulen verschärften soziale Unterschiede. Die Leistungen in Gesamtschulen seien schlechter als auf Realschulen. Saugt man sich diese Ergebnisse aus den Fingern, oder wird Gesamtschule in Deutschland einfach falsch verstanden?

Struck: Mit der Gesamtschule hat man in Deutschland um 1970 herum Fehler gemacht. Man hat meist unkindgemäße Betonklötze in ein Problemgebiet gesetzt, hat den Klassenlehrer abgeholzt, durch einen Tutor ersetzt. Der Schüler hat eventuell gar keinen Unterricht bei ihm. Der Schüler muss in jeder Stunde in einem anderen Raum neben einem anderen Schüler bei einem anderen Lehrer in einem anderen Fach lernen. 300 Meter daneben hat die Regierung ein Gymnasium bestehen lassen. So musste natürlich Gesamtschule eine Totgeburt werden.

In Wirklichkeit ist es so: Immer dann, wenn einige gute Schüler nicht ausweichen können zum Gymnasium, dann sind auch längere Grundschulen sehr effizient und bringen insgesamt für unsere Gesellschaft doch auch mehr Integration. Wenn man manchmal hört, Gesamtschule sei Gleichmacherei; das ist natürlich Quatsch, denn in Wirklichkeit ist eine achte Realschulklasse Gleichmacherei. Die Lehrerin von einer achten Realschulklasse muss denken, die sind alle gleich gut, denn sie sitzen nicht in der neunten, nicht in der siebten, die sitzen nicht im Gymnasium und die sitzen nicht in der Hauptschule. Das ist Gleichmacherei.

Wuttke: Wie kommt es denn aber, dass sich dieser Begriff dieser Lernfabriken für Gesamtschulen in Deutschland so lange gehalten hat? Ist das eine politische Frage? Ist das eine Frage der Lobbyisten, die diesen Begriff so lange haben vor sich hintreiben können und das mit Erfolg?

Struck: Es ist natürlich schon so, dass es dabei auch um Privilegien geht. Wenn wir besser geförderte "Schmuddelkinder" haben, dann wird natürlich die Karrierechance für Kinder aus besseren Kreisen etwas reduziert. Daran haben also nicht alle Interesse. Aber da wir ja sowieso eine sehr starke gesellschaftliche Spaltung haben, die auch durch dieses dreigliedrige System mit gefördert wird, ist es natürlich richtig – das sagte ja sogar der Bundespräsident Horst Köhler mal -, gesellschaftliche Integration gelingt über Schulen oder sie misslingt durch Schulen. Wenn wir schwache und schwierige Schüler restkonzentrieren zum Beispiel in Hauptschulklassen, schaffen wir uns unnötige Probleme. Das Hauptargument gegen die Gesamtschule ist ja immer, gute Schüler würden sich langweilen, würden nicht genügend gefördert werden. Das heißt eben, da muss man es denn mit dem Unterricht anders machen. Man muss Schulen zu Lernwerkstätten machen, Lehrer zu Lernberatern. Man muss Kindern helfen durch Handeln, durch Aussprechen, durch Fehler machen, durch Erklären und voneinander Lernen lassen. Dann wird vieles besser. Das sehen wir übrigens nicht nur an diesem Vergleich Hauptschüler/Gymnasiasten, sondern in Deutschland ja auch an dem Vergleich Jungen und Mädchen. Sie haben in Finnland und Schweden bei 15-Jährigen keine geschlechtsspezifischen Leistungsunterschiede in der Masse, aber in Deutschland werden die Jungen immer schlechter und die Mädchen immer besser. Das hat etwas damit zu tun, dass wir bisher eine Belehrungsschule haben, in der die Kinder durch Zuhören lernen müssen.

Wuttke: Sie haben gesagt was wichtig ist, um miteinander voneinander zu lernen. Sie haben auch gesagt, dass sich in der Bildungspolitik in Deutschland in den letzten Jahren einiges in den Ländern zum Besseren verändert hat. Nun sind wir aber auch von Iglu und Pisa sozusagen geprägt. Es wird evaluiert, es wird projektiert. Wie genau kann das umgesetzt werden, was Sie für ein vernünftiges Lernen in Deutschland fordern?

Struck: Ja gut, das ist ja nicht im Kopf geboren. Das gibt es immer irgendwo. Wir haben in Deutschland etwa 42.000 Schulen. Davon sind etwa 5000 in der Zukunft angekommen – außerordentlich leistungsfähig. Die machen das eben mit dem Lernen anders. Die sind übrigens aber nie aufgrund einer Regierung gut, sondern aus sich selbst heraus. Die Sonne geht immer von unten auf und in dem Maße wie Schulen selbst gut sein wollen schaffen sie es auch. Ein Merkmal einer guten Schule ist, dass sie sehr genau hinguckt, dass sie so viele Gymnasialempfohlene in der Klasse hat wie es prozentual in der Stadt gibt, so viele Hauptschulempfohlene, so viele Migranten, so viele Behinderte wie es in der Stadt gibt. Dann gelingt Schule! Aber sie gelingt natürlich vor allem nur, wenn sie von unten wächst. Die Gesamtschule in Deutschland hat eben bisher das Problem, dass sie eigentlich erst mit Klasse V beginnt. Wir brauchen also, weil die Grundschulen sowieso das Beste in unserem Schulsystem sind – das zeigt uns ja international die Iglu-Studie -, einfach nur eine längere Grundschule.

Wuttke: Herr Struck, ich danke Ihnen sehr für diese Einschätzungen und Informationen zum deutschen Schulsystem und das Pro für die Gesamtschulen. Einen schönen Tag!

Struck: Wünsche ich Ihnen auch, Frau Wuttke. Danke!

Wuttke: Der Erziehungswissenschaftler Peter Struck von der Universität Hamburg im Rahmen der Themenwoche Schule hier im Deutschlandradio Kultur über eben unser Schulsystem. Wir freuen uns auf Ihre Reaktionen unter der E-Mail-Adresse themenwoche.schule@dradio.de.