Piepkonzert im Dachgeschoss

Von Heide Soltau · 22.06.2013
Arno Jessen brütet seit 60 Jahren für Hobbygeflügelzüchter und Kleintierhalter Eier aus. In der kleinen Brüterei des 78-Jährigen erblicken Hühner, Gänse, Enten und Wachteln das Licht der Welt.
Ein Piepkonzert empfängt die Besucher. Obwohl man nirgendwo ein Küken sieht, kann man sie deutlich hören. Die frisch geschlüpften Tiere brauchen Wärme, erklärt Arno Jessen und öffnet eine hölzerne Klappe. Dahinter verbirgt sich der Brutschrank, in den oberen Schubladen liegen die Eier und unten hocken die Küken. Die Brüterei ist ein Saisongeschäft. Mitte Januar geht es langsam los.

Jessen: "Von April bis Juli gibt es keine Mittagsstunde. Es wird ja jedes Ei durchleuchtet, die Hühner nach fünf Tagen, die Enten nach sieben Tagen, die Gänse nach neun Tagen."

Das Meiste macht der schlanke 78-Jährige ohne viel Technik, so wie er es immer getan hat. Nur dass der Rücken mittlerweile etwas krummer und die Beine langsamer geworden sind. Zum Durchleuchten mit einem lampenartigen Gerät zum Beispiel - Schieren, wie der Vorgang heißt - muss er jedes Ei in die Hand nehmen.

"Dann kann ich sehen, ob sich irgendwie so kleine Blutadern gebildet haben, ob das Ei befruchtet ist. Sonst bleibt da nur das Eiweiß und das Eigelb drin, und dann ist das unbefruchtet."

Das Telefon klingelt oft. Die Kunden wollen wissen, wie viele ihrer Eier befruchtet sind. Dieser Anrufer hat Pech.

"Fangen wir mit 'W' an. Das waren 47 Eier, davon sind 40 unbefruchtet. Dann haben sie 50 Eier 'A', minus 37. Und dann haben sie noch mal 27 Eier 'J' gebracht, minus 11. Es sind alle drei Sorten nicht so sehr gut."

Arno Jessen mag es so deutlich nicht sagen, aber die meisten Eier dieses Züchters sind unbefruchtet. Fehler und Nachlässigkeiten führen zu schlechten Ergebnissen.

"Vor allem darf kein Ei über Nacht im Stall bleiben, das ist morgens hin. Dann ist das zu kalt geworden."

Einige haben fast immer gute bis sehr gute Erfolge, bei anderen ist die Quote jedes Mal eher mäßig bis schlecht. Und wenn Anfänger Eier bringen … Der alte Jessen schmunzelt.

"Es gibt manchmal sogar welche, die haben die bei Aldi gekauft und wundern sich nachher, dass da kein Küken kommt. Oder sie haben sie im Kühlschrank aufbewahrt. Also man erlebt das Dollste hier."

"Brüterei Jessen. Ja, wir brüten noch."

Die Jessens brüten seit 1930, solange gibt es den Betrieb in Holstendorf schon, untergebracht in einem roten Backsteinhaus. Unten wohnt die Familie, oben unterm Dach wird gebrütet. Fast gemütlich sieht es dort aus, am Fenster ein Arbeitstisch und rundherum an den Wänden die Brutmaschinen. Sie erinnern an altmodische Holzschränke, nur dass sie beheizt und mit Dutzenden von Schubladen ausgestattet sind. Ein Eigenbau von 1957. Da hatte Arno Jessen den Familienbetrieb bereits übernommen. Viele Kunden kennt er seit Jahren. Wer einmal bei ihm gewesen ist, kommt immer wieder, sagt dieser Hobbyzüchter aus Lübeck, ein ehemaliger Politiker.

"Weil Herr Jessen ein ganz Erfahrener ist, der einen großen Bruterfolg hat."

Vor drei Wochen hat er 50 Hühnereier gebracht und kann heute 35 Küken abholen.

"Das sind jetzt die Kleinen. Die Großen habe ich schon vor 14 Tagen geholt. Moment, zeige ich Ihnen mal: Guck mal, kann man sich nicht rein verlieben in die Dinger hier?"

Bantamküken sind das, so flauschig und gelb und gerade einmal vier Zentimeter groß. Sie sehen aus wie die Plüschtiere aus der Osterdekoration. Die Hobbygeflügelzüchter sind immer die Ersten im Jahr, die sich bei Arno Jessen melden. Es sind überwiegend ältere Männer, Handwerker, Kraftfahrer und Büroangestellte, die Geflügel züchten.

Züchter 1: "Ist ja auch ein schönes Hobby. Das Erste ist im Sommer immer: von der Arbeit gleich zu den Tieren."

Züchter 2: "Ich kenne ja die Diskussion: Das sind alles so merkwürdige Leute. Wenn man nicht das Geld hat und den Platz hat, sich Pferde zu halten oder ähnliche Großtiere, dann hält man sich eben Hühner oder ein paar Tauben."

Eine Kindergartengruppe ist angekommen. Aufgeregt scharen sich die Kleinen um Jessens Tochter Silke, die ihrem Vater hilft.

"Das sind Hühnerküken, das sind Gänseküken, und hier hinten haben wir noch Entenküken. Die dürft Ihr alle streicheln."

"Die zappeln immer so. Komm schon. Oh, Mann."
"Schau mal, jetzt kannst Du ihr was erzählen."
"Hallo, ich bin die Mutter …"

Ein rotblonder Knirps fast sich ein Herz und berührt den Flaum eines Gänsekükens. Doch als es zu piepen beginnt, zieht er die Hand schnell wieder weg. Es wird immer voller bei Jessens unterm Dach.

"Guten Morgen, Herr Bichel. Sie holen jetzt ihre Enten."
"Nach dem Aufstehen bin ich losgefahren. Was sie gesagt haben gestern."

Großbrütereien würden Kunden wie diesen Landwirt gar nicht bedienen. Sie brüten Eier zu Zehntausenden aus und verkaufen die Küken dann zur Mast. Arno Jessen hingegen betreut die Geflügelzüchter alle persönlich. Das erfordert Sorgfalt und Organisationstalent besonders beim Schlupf, damit er weiß, welche Küken aus welchen Eiern geschlüpft sind.

"Denn jeder Züchter möchte seine Tiere wieder haben. Die betreiben das dann schon, wer weiß, wie viele Jahre. Und wenn das Ergebnis da sein soll, und das Küken ist weg, das können wir gar nicht wieder gut machen."

Die Kunden wissen, dass sie sich auf ihn verlassen können. Sie vertrauen ihm bis heute.

"Wir hoffen alle, Herr Jessen, dass Sie das noch viele Jahre machen, denn wir wissen gar nicht, was wir tun sollen, wenn Sie nicht mehr Ihre Brüterei betreiben."

Keine Sorge. Wenn Arno Jessen nicht mehr kann, wird Tochter Silke weiter brüten.
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