Philosophie des Lärms

26.04.2010
Der Schall ist so alt wie die Welt. Den Lärm haben Menschen erfunden. Denn Lärm ist Schall, der einen stört. Das Lärmempfinden ist subjektiv, erklärt uns Sieglinde Geisel. Sie hat eine kleine Philosophie des Lärms geschrieben und eine kleine Kulturgeschichte dazu. Denn die Klagen über zu viel Krach sind kein Phänomen der Moderne. Es gab sie schon im alten Rom:
"Wagen biegen in scharfer Wendung um die Straßenecken. Die Treiber schimpfen laut, wenn ihre Herde nicht weiter ann - all das würde einem Meerkalb den Schlaf rauben!"

Hier schimpft der Dichter Juvenal. Der kultivierte Mensch ist eben lärmempfindlich. Den Standpunkt findet man nicht nur bei Autoren der Antike, sondern auch in Texten der Moderne. Zum Beispiel bei Artur Schopenhauer:

"Ich hege wirklich längst die Meinung, dass die Quantität Lerm, die jeder unbeschwert vertragen kann, in umgekehrtem Verhältnis zu seinen Geisteskräften steht!"

Vom Lärm der Antike her nährt sich die Autorin der Geräuschkulisse der Gegenwart. In 15 Kapiteln kommen reichlich Köpfe zu Wort, denen das Thema "Krach und Stille" auf den Nägeln brennt: Dichter, Denker, Komponisten, Wissenschaftler, Politiker.

Wie laut ist eigentlich zu laut? Seit den 1920er-Jahren ist die Lautstärke physikalisch messbar. Damit begann eine neue Ära in der Kulturgeschichte des Lärms. Es wurden Grenzwerte für seine Duldung festgelegt. Polizei und Justiz bekamen einen Maßstab für den Tatbestand der Lärmbelästigung.

"Verkehrslärm wird meist hingenommen. Die meisten Beschwerden der Bürger betreffen den Lärm der Nachbarn. Und die Umtriebe des Nachtlebens."

Hat Sieglinde Geisel beim Ordnungsamt in Berlin-Pankow erfahren. Die Bürger beschweren sich auch über den Lärm von Flugplätzen und Windkraftanlagen. Geisel meint, hier werde so manche echte Belästigung aufgrund fragwürdiger Messmethoden als zumutbar eingestuft.

Worüber sich kaum ein Bürger bei der Polizei beklagt, ist die moderne Rundum-Beschallung in Einkaufstempeln, in Cafés und Restaurants. Auch im Hallenbad und beim Friseur - überall dudelt neuerdings im Hintergrund Musik. Wer sie nicht hören will, hat es schwer:

"Der Schall-Allergiker sieht sich einem brutalen Kesseltreiben ausgesetzt. Die Vorkehrungen, die er treffen muss, um sich dem allgegenwärtigen Musikantenstadl aus Heavy Metal, Vivaldi, Techno, Blaskapelle und Tic Tac Toe zu entziehen, kommt einer Behinderung gleich."

Hans Magnus Enzensberger. Der hat die Ohrstöpsel immer dabei. Die Möglichkeit, Menschen zu beschallen, ohne dass sie darum gebeten haben, sie quasi mit Lärm zu verfolgen - diese Möglichkeit ist eine Tochter des 20. Jahrhunderts. Denn dieses Jahrhundert hat die Technik der "Schizo-Phonie" erfunden, sagt der kanadische Musikforscher Murray R. Schafer:

"'Schizo-Phonie' entsteht, wenn der Schall durch Geräte (wie Telefon, Fernseher, Radio, Tonträger) von seiner Quelle getrennt - und isoliert wiedergegeben wird."

Gegen den Lärm, ist da ein Kraut gewachsen? Sicher. Die Flucht. Zumindest vor dem Citylärm kann man sich schützen. Mit einem Häuschen im Grünen. Nur wird es dort immer lauter, weil zu viele die Flucht ergreifen. Sieglinde Geisel erteilt uns augenzwinkernd eine Lektion in Physik, und wir begreifen: Nur im Weltall ist es wirklich still. Aber dorthin zu flüchten, hatten wir nicht vor. Wir sollten also besser lernen, mit dem Lärm zu leben.

"Wenn ein Lärm Sie stört - hören Sie ihm zu!"

Der Rat von John Cage, Komponist. Einer, der den Großstadtlärm, der durchs offene Fenster hereinschwappte, immer als einen Teil der Musik betrachtet hat, die er gerade anhörte.

Außerdem - nerviger als jede Geräuschkulisse ist doch der "lautlose Lärm". Die Autorin hat ihm ein ganzes Kapitel gewidmet: dem medien-fabrizierten "Lärm in unseren Köpfen":

"Vor dem Computer sind wir unserer eigener Lärm. In der Endlosigkeit des Chattens, Twitterns, Bloggens finden wir eine schwer fassbare Geborgenheit, allerdings um den Preis einer nie dagewesenen Zerstreuung. Unsere Aufmerksamkeit wird zerfressen, bis nichts mehr da ist von unserem Selbst."

Solange der Computer läuft, der Fernseher, das Handy, liefern wir uns dem Lärm der Maschinen aus. Freiwillig. Für Stille in unserem Kopf zu sorgen, fällt uns offensichtlich genauso schwer, wie eine Diät zu halten. Man muss einer Versuchung widerstehen. Und der diffusen Angst, etwas zu verpassen.

Stille ist eine Entscheidung, sagt Sieglinde Geisel, das ist die gute Nachricht. Stille ist, wenn ich höre, was ich will. – Ein schmales, ein lebenskluges Büchlein. Reich an alten Weisheiten und wissenschaftlichen Neuigkeiten.

Besprochen von Susanne Mack

Sieglinde Geisel: Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille
Galiani Verlag, Berlin 2010
167 Seiten. 16,95 Euro