Philosoph Julian Nida-Rümelin

"Liberale Weltordnung auf dem Prüfstand"

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin blickt am 25.10.2016 bei der Verleihung der Bayerischen Europa-Medaille im Prinz-Carl-Palais in München (Bayern) in die Kamera. Der frühere Kulturstaatssekretär Nida-Rümelin steht laut Staatsregierung als Priesträger «für unser gemeinsames europäisches Erbe von Humanismus und Aufklärung und ist damit auch ein Vorbild der europäischen Idee»
Julian Nida-Rümelin hatte die kürzeste Amtszeit als Kulturstaatsminister: von Januar 2001 bis Oktober 2002. © picture alliance / dpa / Matthias Balk
Julian Nida-Rümelin im Gespräch mit Ute Welty · 25.02.2017
Die Europäische Union ist in der Krise, ein neuer Nationalismus erstarkt: Der Philosoph und Ex-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin plädiert für ein europäisches Verfassungsreferendum und eine Aufgabenverteilung zwischen einer demokratisch legitimierten EU und den Nationalstaaten.
Die Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin tagt vom 24.-25.2. zu der Frage "Internationale Gerechtigkeit und demokratische Legitimation".
Wie können die europäischen Institutionen zukunftsfähig werden und das europäische Einigungsprojekt wieder Vitalität gewinnen? Diskutiert wird über das Spannungsverhältnis zwischen der demokratischen Legitimation vieler Nationalstaaten und der weitgehend fehlenden demokratischen Legitimation internationaler Institutionen. Mit-Initator der Tagung ist der Philosophieprofessor und frühere Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin.
Der Professor für Philosophie und politische Theorie an der Universität München, Julian Nida-Rümelin, plädiert für mehr demokratische Legitimierung der EU und fordert den Aufbau globaler institutioneller Verantwortung.
Angesichts des Erosionsprozesses der Europäischen Union und eines neuen Nationalismus sei all das, "was oft als liberale Weltordnung bezeichnet wird, auf dem Prüfstand", sagte Nida-Rümelin im Deutschlandradio Kultur.

Internationale Gerechtigkeit und demokratische Legitimation

"Uns fehlt es an den institutionellen Grundlagen einer verantworteten und legitimierenden Weltpolitik",
kritisierte der frühere Kulturstaatsminister im ersten Kabinett von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und Sprecher der zur Tagung einladenden interdisziplinären Arbeitsgruppe "Internationale Gerechtigkeit und institutionelle Verantwortung (IGIV)" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Die meisten der Tagungsmitglieder erachteten internationale Institutionen für unverzichtbar, die die globale Entwicklung steuern könnten.
Im Sinn funktionierender Staatlichkeit gebe es bislang nur die Ebene der Nationalstaaten und das Projekt der Europäischen Union, das sich selbst in der Krise befinde, kritisierte Nida-Rümelin. Globalisierung gebe es bislang nur in Form unkontrollierter globaler Finanzmärkte. Gleichzeitig fehle der Europäischen Kommission, die massiv unter dem Einfluss ökonomischer Interessen stehe, eine demokratischen Legitimierung. So seien bislang lediglich die Nationalstaaten in der Lage, zwischen ökonomischen und sozialen Interessen einen Ausgleich zu organisieren. Insofern sei das Unbehagen der Bevölkerung verständlich.

Referendum über das normative Fundament der EU

Angesichts von berechtigten Ängsten in der Bevölkerung vor dem Verlust funktionierender staatlicher Kontrolle, müsse die EU folgllich besser demokratisch legitimiert werden. Der Philosoph mit dem Spezialgebiet Theoretische und angewandte Ethik hält ein europäisches Verfassungsreferendum über das normative Fundament der europäischen Union für aktueller denn je. Er zeigte sich überzeugt, dass ein solches europaweites Referendum über die Grundnormen und Ziele des europäischen Einigungsprojekts "wenn vernünftig formuliert, auch Erfolg hätte".

Aufgabenverteilung zwischen EU und Nationalstaaten

Nida-Rümelin plädierte zudem dafür, die Aufgaben zwischen den Nationalstaaten und einem Europa neu zu verteilen: Auf europäischer Ebene siedelt er das Ziel einer gemeinsamen Außenpolitik und gemeinsamer Prinzipien einer solidarischen Europapolitik an. Aufgaben, die die Nationalstaaten besser könnten, sollten auch dort verbleiben:
"Es geht beides zusammen: Stärkung Europas im Sinne einer politischen Union im Sinne einer gemeinsamen Verantwortlichkeit und Verlagerung aller Kompetenzen, die am besten in den Nationalstaaten aufgehoben sind oder darunter, in den Ländern oder Kommunen."

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Internationale Gerechtigkeit und demokratische Legitimation – es ist wahrlich kein ganz dünnes Brett, das da heute noch gebohrt werden soll in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Die zweitägige Tagung will nichts weniger als der Frage nachgehen, wie denn die Welt geordnet sein soll, in der wir leben, und zwar die Welt über die Nationalstaaten hinaus. Eröffnet worden ist die Tagung von Julian Nida-Rümelin. Der Philosoph mit Schwerpunkt mit Schwerpunkt Theoretische und angewandte Ethik hat auch praktische Politikerfahrung als Kulturstaatsminister im ersten Kabinett von Kanzler Gerhard Schröder. Ich habe mit Julian Nida-Rümelin kurz nach der Tagungseröffnung gesprochen und ihn gefragt, was er den Teilnehmern mit auf den Weg gegeben hat. Ich grüße Sie!
Julian Nida-Rümelin: Grüße Sie!
Welty: Welcher Gedanke war Ihnen denn besonders wichtig?
Nida-Rümelin: Wir leben gegenwärtig in einer Zeit des Umbruchs. Es ist noch nicht ganz klar, in welcher Richtung sich das entwickelt. Es gibt zweifellos einen neuen Nationalismus. Der Brexit, der Austritt Großbritanniens aus der EU, hat das deutlich gezeigt, die Wahl von Trump als neuer US-Präsident ist ebenfalls verbunden mit jedenfalls der Erwartung, dass die USA einen protektionistischen Kurs einschlagen wird und sich aus internationalen Verpflichtungen in Zukunft raushalten wird. Das heißt, das, was oft als liberale Weltordnung bezeichnet wird, das ist auf dem Prüfstand, und ich glaube, es ist gut, jetzt nicht nur einfach in eine Verteidigungshaltung zu gehen, sondern wo ist sie erfolgreich gewesen, zum Beispiel in der Etablierung eines Menschenrechtsdiskurses, der so gut wie alle Länder der Welt umfasst, nicht unbedingt in der Praxis, und wo ist sie nicht erfolgreich gewesen, zum Beispiel in Gestalt des Interventionismus des Westens im Irak, in Afghanistan, in Libyen, in Syrien und an vielen anderen Stellen, oder ist sie erfolgreich hinsichtlich der wirtschaftlichen Globalisierung, oder führt das nicht auch zu massiven Brüchen, sozialen Problemen in den Ländern.
Welty: Wenn wir uns noch mal am Titel der Veranstaltung orientieren, liegt ihr Schwerpunkt eher auf internationaler Gerechtigkeit oder eher auf demokratischer Legitimation?

"Uns fehlt es an den institutionellen Grundlagen einer verantworteten und legitimen Weltpolitik"

Nida-Rümelin: Es geht um die Verbindung. Es gibt einen hochentwickelten philosophischen Diskurs zu Themen internationaler Gerechtigkeit, und es gibt auf der anderen Seite eine sehr unterentwickelte globale Praxis. Wir haben zwar dauernd Konferenzen, internationale Tagungen, G7, G20, Treffen, um zum Beispiel TTIP zu beraten zwischen EU und USA, und vieles andere gehabt. Aber was wir nicht haben, sind Institutionen, die die globale Entwicklung steuern. Das heißt, uns fehlt es an den institutionellen Grundlagen einer verantworteten und legitimen Weltpolitik.
Welty: Und wie könnten diese Institutionen aussehen, wie sollten sie aussehen Ihrer Einschätzung nach?
Nida-Rümelin: Das ist genau der Inhalt der von mir beantragten und bewilligten interdisziplinären Arbeitsgruppe der Akademie der Wissenschaften hier zu Berlin. Aber es zeichnet sich schon ab, dass die allermeisten der Kolleginnen und Kollegen, die dort Beiträge leisten, für eine kosmopolitische Gestaltung der Weltverhältnisse plädieren.
Welty: Eine Art Weltregierung?

"Besorgnis der Bevölkerung, die Kontrolle zu verlieren"

Nida-Rümelin: Nicht Weltregierung, aber globale Institutionen für unverzichtbar erachten. Im Augenblick haben wir Globalisierung in Gestalt von Märkten, globale Finanzmärkte zum Beispiel. Die funktionieren mehr schlecht als recht, sind wenig kontrolliert, sie haben die letzte große Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise ausgelöst, die zweitgrößte der Geschichte der kapitalistischen Wirtschaftsform, also seit Anfang des 19. Jahrhunderts die zweitgrößte Wirtschaftskrise. Aber wir haben im Sinne funktionierender Staatlichkeit im Grunde nur die Nationalstaaten und dann zum Zweiten dieses Projekt der Europäischen Union, das selbst in einer Krise ist.
Welty: Jetzt ist es ja so, dass gerade in der Europäischen Union beispielsweise das Bedürfnis nach Nationalstaat eher wächst denn abnimmt. Wenn wir uns die Verhältnisse in Frankreich angucken, wenn wir uns den Brexit angucken, wie passt das dann zusammen, und wie groß ist dann die Chance, so etwas, wie Sie das beschrieben haben, auch in die Tat umzusetzen.
Nida-Rümelin: In der Tat, ich glaube, dass dieser neue Nationalismus nicht immer fremdenfeindliche, chauvinistische oder sonstige Motive hat, sondern es gibt ein verbreitetes Besorgnis der Bevölkerung, die Kontrolle zu verlieren. Und da ist was Wahres dran. Es sind die Nationalstaaten, die bislang noch am ehesten in der Lage waren, einen Ausgleich zwischen ökonomischen und sozialen Interessen zu organisieren. Es sind nur die Nationalstaaten, die staatlich garantierte Solidarität praktizieren. Das ist nicht die Europäische Union. Die Europäische Union hat keinerlei sozialstaatliche Komponente. Und deswegen verstehe ich dieses Bedürfnis der Menschen, erklärt doch erst mal, wer übernimmt denn dann diese Rolle, wenn wir denn als Nationalstaaten etwas preisgeben. Die Europäische Kommission in ihrer jetzigen Form ist demokratisch nicht hinreichend kontrolliert, sie ist nicht wirklich eine europäische Regierung. Sie steht massiv unter dem Einfluss ökonomischer Interessen. Da ist dieses Unbehagen absolut verständlich. Deswegen habe ich auch in Publikationen dafür plädiert, beides zu praktizieren. Das, was die Nationalstaaten besser können, soll auch dort verbleiben. Die EU hat uns keine Vorschriften zu machen, zum Beispiel die Stadtsparkassen abzuschaffen, was der Wettbewerbskommissar vorgeschlagen hat vor einiger Zeit. Das ist jetzt unterdessen vorbei seit der Krise. Hat uns keine Vorschriften zu machen, ob wir berufliche Bildung haben oder nicht. Auch das wird ja sehr kritisch gesehen in Europa. Aber dieses Europa muss sich einigen in Gestalt einer gemeinsamen Außenpolitik, gemeinsamer Grundprinzipien einer solidarischen Europapolitik. Da darf niemand fallen gelassen werden. Und das heißt also, es geht beides zusammen. Stärkung Europas im Sinne einer politischen Union, im Sinne einer gemeinsamen Verantwortlichkeit, und Verlagerung aller Kompetenzen, die am besten in den Nationalstaaten oder darunter, in den Kommunen oder Ländern aufgehoben sind, nach unten.
Welty: Bleibt die Frage nach der Legitimation. Bürgerentscheidungen oder Referenden scheinen ja auch nicht immer das Mittel der Wahl zu sein. Kann man sich auf den Menschen noch verlassen?

"Ein Referendum über die Grundnormen und -ziele des europäischen Einigungsprojektes"

Nida-Rümelin: Sie werden sich vielleicht wundern, wenn ich sage doch. Zusammen mit Jürgen Habermas habe ich 2012 einen Artikel publiziert mit dem Plädoyer für ein europaweites gemeinsames, nicht nationalstaatlich aufgegliedert – nicht in Deutschland, in Frankreich, in Italien und so weiter –, sondern in ganz Europa ein Referendum über die Grundnormen und -ziele des europäischen Einigungsprojektes zu veranstalten, um dieses normative Fundament, man kann das dann auch europäische Verfassung nennen, obwohl der europäische Verfassungsvertrag gescheitert ist, übrigens an zwei Gründungsmitgliedern, Niederlanden und Frankreich, und zwar deswegen, weil nur so sozusagen die Bürgerschaft Europas Gewicht bekommt. Die Bürgerschaft Europas als ganze muss sich artikulieren, um diesem Europa wieder neuen Schwung zu geben. Und ich glaube, dass das aktueller ist denn je in dieser Erosionsphase, und ich bin absolut zuversichtlich, dass ein solches Referendum, wenn vernünftig formuliert, auch Erfolg hätte.
Welty: Gerechtigkeit und Legitimation. Gedanken dazu von Julian Nida-Rümelin. Der Philosoph ist zu Gast auf der Tagung zum Thema in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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