Philippinen

"Begriff der Plünderung völlig unpassend"

Martin Voss im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 14.11.2013
Taifun "Haiyan" hat die Philippinen ins Chaos gestürzt, deutsche Medien berichteten hinterher von "Plünderungen". Diese Wortwahl kritisiert der Katastrophenforscher Martin Voss: Damit würden die Opfer kriminalisiert.
Korbinian Frenzel: Es waren Minuten, ein kurzer Augenblick: der Taifun Haiyan, der über die Philippinen hinwegfegte vor mittlerweile sieben Tagen. Aber dieser Ausbruch der Natur, er hat ganze Landstriche derart verwüstet, dass die Lage noch immer dramatisch ist. Essen und Wasser fehlen, die Taifun-Opfer können nur schleppend versorgt werden, und diese Not schlägt zunehmend in Chaos um. Besonders verheerend sind die Zerstörungen in der Stadt Tacloban, einstmals das Zuhause von mehr als 200.000 Menschen. Jetzt, so beschreibt es unser Reporter Udo Schmidt, der die Stadt nach Tagen erreichen konnte, nur noch ein Trümmerfeld.
Beitrag Udo Schmidt
Frenzel: Nach den Naturgewalten entlädt sich jetzt also immer häufiger die Gewalt unter den Menschen. Wir haben es gehört in dem Bericht von den Philippinen. Und es kommt einem unweigerlich die Frage in den Sinn: Ist der Mantel der Zivilisation am Ende doch sehr, sehr dünn? – Nicht nur aus dem Bauch heraus, sondern sehr wissenschaftlich beschäftigt sich Martin Voss mit dieser Frage. Er ist Leiter der Katastrophenforschungsstelle an der Freien Universität Berlin und jetzt am Telefon. Guten Morgen!
Martin Voss: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Wird der Mensch zum Tier in solchen Situationen?
Voss: Nein. Erst mal ist er vielleicht Tier per se und gar nicht so menschlich, wie er sich das gerne einredet, sondern doch Naturwesen und mit der Natur auf ganz vielen Ebenen verbunden, untrennbar geradezu. Er stoffwechselt mit der Natur. Er entwickelt dann aber natürlich soziale Formen, die ihn besonders machen, wie er mit seines gleichen und mit seiner Umwelt umgeht, und das in kulturell sehr unterschiedlichen Formen, die dann auch wiederum zu unterschiedlichen Formen des Umgangs mit extremen Ereignissen führen.
Frenzel: Das heißt, solche Plünderungen, wie wir sie gerade auf den Philippinen sehen, sind ganz normal, sind nicht vermeidbar?
Voss: Ich finde diesen Begriff der „Plünderung“ an dieser Stelle so völlig unpassend, weil er ein Begriff ist, der aus unserem hiesigen Verständnis eines ganz normalen Alltags herrührt und etwas Kriminalisierendes im Grunde genommen mitführt. Das ist ja hier doch vollkommen fehl am Platz. Wir haben ganz andere Bedingungen, da ist genau das Gegenteil von Alltag: Es ist die Katastrophe. Nichts ist mehr so, wie es normalerweise war, und nichts mehr ist so, wie es sein soll, und Sie haben die grundlegendsten Dinge nicht mehr geregelt wie etwa, wie kriegen Sie eigentlich ihre Kinder morgen irgendwie satt. Und wenn Sie vor dieser Frage stehen, alles um Sie herum schon sowieso zerstört ist, das einzige, was da noch ist, sind diese Lebensmittel im Laden, ist dann Plünderung wirklich der richtige Begriff?
Frenzel: Ich glaube, jeder findet das verständlich und nachvollziehbar in dieser Situation. Aber es ist ja dennoch der Egoismus, der da durchkommt: ich will mich selbst, ich muss mich selbst versorgen, vielleicht noch die meinen. Aber nehmen wir zum Beispiel dieses Reislager, das da ja überfallen wurde. Da wurde sehr viel Reis mitgenommen, natürlich für Menschen, die das essen werden. Aber das fehlt natürlich gerade denen, die vielleicht gar nicht mehr die Kraft hatten, sich an einer solchen Aktion zu beteiligen. Das ist doch im höchsten Maße unsolidarisch, unzivilisatorisch?
Über 100 verschiedene Stämme
Voss: Ich will das überhaupt nicht schön reden. Aber auch unter Normalbedingungen hätten Sie ein bestimmtes Maß an Kriminalität, an Raub, wie auch immer. Das ist sozusagen immer da in verschiedenen Gesellschaften in unterschiedlichem Ausmaß. Das tritt nun hier besonders zutage, wird auch wiederum besonders in die Bilder reingebracht. Ich finde, man muss das schon so weit relativieren, schon so weit, dass man sieht, na ja, das was da passiert, ist unter ganz besonderen Bedingungen, und es sind keineswegs alle, die da vollkommen um sich schlagen und ganz egoistisch agieren.
Frenzel: Sie haben Unterschiede angesprochen, haben gesagt, die gibt es, kulturell, auch vom Wohlstandsgefälle her. Was bestimmt, ob es wirklich zu solchen Ausnahmesituationen kommt, und was hilft, damit es zivilisiert bleibt?
Voss: Wenn wir jetzt explizit auf die Philippinen schauen, dann haben wir es da mit einem Vielvölkerstaat zu tun. Das sind allein über 100 verschiedene Stämme, unterschiedliche Religionen, über Muslime, Christen und auch Naturreligionen, die oftmiteinander verwoben sind, über 170 Sprachen, 92 Millionen Menschen, wenn ich das richtig im Kopf habe, also ganz heterogen, wo natürlich auch Konflikte drin sind. So was entlädt sich dann, wenn ein Ordnungssystem, was vielleicht artifiziell ist, was eigentlich nicht aus dem Sozialen selbst heraus sich entwickelt hat, sondern quasi oktroyiert wurde, wegbricht.
Frenzel: Ich hätte jetzt zunächst mal vermutet, dass Wohlstand und hoher technischer Zivilisationsstand eines Landes hilft in solchen Situationen. Aber wir haben ja alle in Erinnerung Katrina, nach dem Hurrikan in New Orleans, wie es da ja auch zu solchen Ausschreitungen kam. Das heißt, Wohlstand hilft nicht, oder?
Voss: Nein. Wiederum einmal vorausgesetzt, dass ich die Plünderungsthese an sich so nicht teile, sondern auch bei Katrina sagen würde, na ja, diese Kriminalität haben Sie auch in den Tagen davor gehabt, auch da gab es Mord und Totschlag. Wie gesagt, ich will das überhaupt nicht relativieren, nicht schön reden. Mir geht es nur darum: Es ist sowieso da, ob nun in einer industrialisierten Gesellschaft oder in einer sogenannten Entwicklungsgesellschaft. Da schützt Zivilisation nicht – was ist das überhaupt -, da schützt kein Reichtum – was ist denn das, das ist auch relativ – und so weiter, sondern es ist sozusagen das, was sowieso im Kulturellen da ist, was sich dann Bahn bricht.
Frenzel: Jetzt haben wir die ganze Zeit – ich gebe zu: ich bin Schuld, weil ich die Frage so gestellt habe – über die negativen Seiten gesprochen in solchen Katastrophensituationen, das menschliche Verhalten. Haben Sie denn auch positive Forschungsergebnisse, wo Sie sagen, da sehen Sie, die Menschen rücken zusammen, da ist Solidarität?
Voss: Ja es ist gerade so, dass die Forschung eigentlich uni sono das prosoziale Verhalten in Katastrophen in den Vordergrund stellt und gerade nicht das asoziale. Menschen helfen einander, gerade in dem Moment des absoluten Versagens der Ordnung darum herum. Dann rücken sie aneinander, sie spenden einander nicht nur Trost, sie helfen einander erst mal beim Nötigsten, vielleicht erst mal beim Bergen oder beim Retten, sie rücken eng zusammen unter die eine Plane, die noch übrig ist, und so weiter. Das Prosoziale ist ganz klar das dominante Muster. Das Unsoziale gehört genauso auch da mit rein, das ist normal.
Frenzel: Menschliches Verhalten bei Katastrophen – Martin Voss hat es uns erklärt, der Leiter der Katastrophenforschungsstelle an der FU Berlin. Herzlichen Dank dafür.
Voss: Ja ich danke Ihnen, Herr Frenzel.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.