Pfalz

Wie sich Protestanten in Großstädten neu erfinden

Blick auf die Stadt Kaiserslautern aus der Luft
Nicht nur evangelische Kirchen in Millionenstädten haben es schwierig - auch Protestanten in eher kleineren Großstädten wie Kaiserslautern müssen sich umstellen. © picture alliance / dpa / Ronald Wittek
Von Ludger Fittkau · 07.09.2014
Häufige Wohnortwechsel, viele Migranten, schrumpfende Mitgliederzahlen: Für die Kirchen wird es in Großstädten schwieriger, das Gemeindeleben aufrechtzuerhalten. Die evangelische Kirche der Pfalz hat deshalb "urbane Strategien" entwickelt. Ein Erfolgsmodell?
Horst Voggel erklärt österreichischen Besuchern die barocke Dreifaltigkeitskirche in Speyer, warum der Kirchenraum sinnenfroher aussieht, als die Österreicher dachten. Die Verkleidungen der Empore sind bunt bemalt, die Orgel gut sichtbar auf ebener Erde platziert. Es liegt an Luther, erklärt der ehrenamtlich tätige Kirchenführer:
"Er war ja ein sinnenfreudiger Mensch, er hat die Musik geliebt. Er hat die Musik auch in die Liturgie eingeführt. Nicht alltäglich – die Orgel, ein Musikinstrument, auf einer Ebene mit dem Altar. Das ist was typisch Lutherisches."
Horst Voggel betreut die "offene Kirche" in Speyer. Im Rahmen dieses Projektes bietet die Dreifaltigkeitsgemeinde zufälligen Besuchern an, ihnen auf Wunsch zu erklären, wie sich lutherisches Christentum von anderen Konfessionen unterscheidet. Hier findet sozusagen en passant religiöse Basis-Bildung statt.
"Dies ist eine lutherische Kirche, deswegen ist sie auch so reich geschmückt. Außerdem Spätbarock. Zeitgeschmack. Und wenn sie reformierte Kirchen im Gedächtnis haben, ohne Schmuck und ohne Bilder. Und deswegen meinen viele, es sei eine katholische Kirche."
Dies ist ein Weg in der Evangelischen Kirche der Pfalz, gerade in Städten Menschen jenseits der klassischen Gemeinden anzusprechen, die immer kleiner werden. Oberkirchenrat Michael Gärtner:
"Und einer der wesentlichen Punkte im Unterschied zwischen den Großstädten und dem eher ländlichen Bereich ist die hohe Fluktuation. Die Anzahl der Zu- und Wegzüge, die sich bis zu einem Drittel pro Jahr in einem Stadtteil belaufen können. Und zum anderen auch, dass die Menschen, die dort wohnen, mobiler sind. Das heißt, oft ist die Wohnung nur ihre Schlafgelegenheit und sie verbringen den größten Teil ihrer Freizeit und ihres Lebens außerhalb des Stadtteils. Und das ist immer wieder ein Problem: Sie verorten sich nicht, sie identifizieren sich nicht in ihrem Stadtteil."
Viele Menschen ohne evangelischen Glaubenshintergrund
Eine hohe Zahl von Migranten und Migrantinnen ohne evangelischen Glaubenshintergrund gerade in den Innenstädten sorgt zusätzlich dafür, dass es immer schwerer wird, dort das traditionelle Gemeindeleben aufrechtzuerhalten. Aber auch Menschen, die sich noch als evangelische Christen fühlen, werden zunehmend "ortlos", betont Oberkirchenrat Michael Gärtner:
"Und das ist für Kirche immer schwierig, wenn sich Menschen nicht mit dem Dorf oder dem Stadtteil, in dem sie wohnen, identifizieren, dann kann man schwer Gemeinde im traditionellen Sinne bilden. Und wenn die Stadt nicht mehr so stabil ist und ständig Veränderungen da sind, dann müssen wir schauen, wie wir darauf reagieren."
Beispiel Ludwigshafen am Rhein, die Versöhnungskirche in einer Arbeiter-Wohnsiedlung am südwestlichen Stadtrand. Schon 2006 wurde klar: Die schrumpfende Gemeinde würde ihr Kirchengebäude nicht mehr aus eigener Kraft unterhalten können. Nach mehrjähriger Debatte entschloss man sich 2009, das Gebäude zur Jugendkirche umzuwidmen. Stadtjugendseelsorge und der Evangelische Jugendverband zogen dort ein. Jugendpfarrerin Kerstin Bartels ist froh, dass dies vor fünf Jahren noch geklappt hat und das Gebäude nicht verkauft wurde:
"Mittlerweile ist es so, dass in den Städten und auch in Ludwigshafen immer mehr Gemeinden vor der Entscheidung stehen, was sie mit ihren Gebäuden machen. Heute würde diese Entscheidung vielleicht nicht mehr so fallen, deswegen sind wir froh, dass wir es noch geschafft haben."
Ein nicht aufzuhaltender Wandel
Ein Kickertisch steht heute gleich im Eingangsbereich zum Gemeindezentrum, schräg gegenüber ist eine Theke eingebaut worden. Den Gottesdienstraum zieren nun dauerhaft große Metallstangen für Bühnenscheinwerfer, denn hier finden regelmäßig Rockkonzerte statt. Die Förderungen von Musikbands ist nämlich einer der Schwerpunkte der Jugendkirche, erklärt die 17-jährige Mareike Schiffer. Sie engagiert sich im Vorstand der Jugendkirche:
"Beim 'Band-Coaching' werden aus Leuten, die Lust dazu haben, neue Bands formiert. Die dann ein Wochenende lang zusammen proben und am Ende dann zusammen ein kleines Konzert geben."
Die noch verbliebenen älteren Gemeindemitglieder mussten angesichts der gewandelten Nutzung ihrer Kirchenräume schon manchmal schlucken, räumt Jugendpfarrerin Kerstin Bartels ein. Doch es ist ein Wandel, der in den Großstädten nicht aufzuhalten ist, glaubt sie:
"In anderen Städten ist es so, da sucht evangelische Jugend gezielt nach einem Kirchenraum, der ihnen zusagt, der ihrer Arbeit entspricht. Und es gibt bundesweit viele Jugendkirchen mittlerweile, von evangelischer als auch von katholischer Seite. Was alle als Merkmal gemeinsam haben ist, dass evangelische Jugend als Gastgeber auftreten kann."
Gastgeber für Kulturveranstaltungen und Konzerte sind auch die Mitglieder der architektonisch herausragenden Stiftskirche im Zentrum von Kaiserslautern. Die Stiftskirche ist ein Flagschiff einer weiteren "urbanen" Strategie der Evangelische Kirche der Pfalz: Besonders schöne Kirchengebäude werden zu "Kulturkirchen", die weit mehr Menschen anlocken können als die Mitglieder der Kerngemeinde. Doch auch diese Strategie führt dazu, dass sich Kirchenräume ändern - sagt Pfarrer Wolfgang Schumacher, Pressesprecher der pfälzischen Landeskirche:
"Die Erfahrung in Kaiserslautern der historischen gotischen Stiftskirche ist die, dass Menschen dort hineingehen, um das nicht nur als eine Kulturstätte zu sehen, sondern durch die Besucher hat sich die Kirche verändert. Es gibt Kerzen, die man dort anzünden kann, eine schreckliche Vorstellung für manche Protestanten. Man hat ein Kreuz vermisst, weil diese Kirche eine reformierte Tradition hat. Infolgedessen wurde jetzt ein Altarkreuz nach heißen Debatten hingestellt."
Kampf gegen den Hungen und religiöse Basisbildung
Nicht um religiöse Ästhetik, sondern um existenzielle Armut geht es bei der "Kindervesper", die die Jugendkirche in Ludwigshafen regelmäßig für Kinder aus der Nachbarschaft veranstaltet. Kerstin Bartels:
"Eine Woche lang – im November zum Beispiel – feiern wir zusammen Kindervesperkirche. Da wird eine benachbarte Grundschule hier zum Mittagessen eingeladen. Wir wissen, dass wir mit der einen Mahlzeit nicht die Armut oder den Hunger bekämpfen können, aber wir haben so eine relativ große Öffentlichkeit mit dem Thema und können so auf dieses Thema in der Stadt hinweisen."
Während in der einen Großstadtkirche der Hunger bekämpft wird, betreibt man andernorts in der Innenstadt religiöse Basisbildung. So wie es in Speyer Horst Voggel macht, wenn wieder Nicht-Lutheraner die "offene" Dreifaltigkeitskirche besichtigen:
Und 1529 hatte sich die Kunde des neuen Glaubens schon so rumgesprochen, dass es hier sechs Reichsfürsten gab und 14 freie Reichsstädte gab, die ihre Vertreter nach Speyer geschickt haben. Sie sollten vor dem Reichstrag protestieren, sie sollten ihn auffordern, den neuen Glauben anzuerkennen. Das war dieser sogenannte "Protestationsreichstag". Und das war die Grundlage, dass die Gläubigen, die Evangelischen, heute weltweit die Protestanten genannt werden.