Patiententherapie

Erfundene Krankheiten und sinnlose Pillen

Ein Arzt hält Tabletten in der Hand.
Die Pille ist schnell zur Hand - doch existiert die Krankheit, für die verschrieben wurde, überhaupt? © imago/STPP
Dirk Ruiss im Gespräch mit Dieter Kassel · 24.08.2016
Gibt es die Wechseljahre von Männern wirklich? Das sei eine von der Pharmaindustrie erfundene Krankheit, kritisiert Dirk Ruiss vom Verband der Ersatzkassen in Nordrhein-Westfalen. Man müsse sich zunehmend mit dem Phänomen ausgedachter Krankheiten auseinandersetzen.
Das Unruhige-Beine-in-der-Nacht-Syndrom, die hypoaktive Sexualfunktionsstörung bei der Frau, Burn-Out – das sind einige Krankheiten, die erst in letzter Zeit entdeckt wurden. Manche Krankheiten wurden eigentlich nicht entdeckt, sondern erfunden, sagen Kritiker: Und zwar von der Pharmaindustrie, die gleich die passenden Medikamente dazu liefert.
Die richtige Einschätzung dieser Thematik bereite den gesetzlichen Krankenkassen zunehmend Schwierigkeiten, sagte Dirk Ruiss im Deutschlandradio Kultur. Er ist Leiter der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen des Verbands der Ersatzkassen:
"Es gibt genügend Beispiele für erfundene Krankheiten, auch für Krankheiten, die es vielleicht gibt, aber die auch übermäßig diagnostiziert werden. Und das wird zunehmend ein Problem für die gesetzlichen Krankenkassen. Und es ist natürlich ein Problem für die Versicherten selber und für die Patienten. Und da müssen wir schauen, was wir da machen können."

Gefahr von Überdiagnosen bei ADHS

Ein gutes Beispiel für eine erfundene Krankheit seien die Wechseljahre von Männern, führte Ruiss an. Dieses Phänomen sei vor einigen Jahren "stark promotet" worden: von der Pharmaindustrie in Kombination mit PR-Agenturen. Ein anderes Beispiel sei etwa das Thema Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern:
"Das ist natürlich eine Krankheit. Aber hier stellen wir zunehmend Überdiagnosen fest. Und das führt dann natürlich zu enormen Verschreibungsmengen, auch mit Retalin, mit Medikamenten, die für Kinder in der Regel auch schädlich sind. Und beide Stränge muss man beachten: Krankheiten, die es nicht gibt. Aber auch Krankheiten, die es gibt, die aber zu stark diagnostiziert werden."

Psychische Erkrankungen : Aus der Schüchternheit wird eine soziale Phobie

Auch bei der Diagnose von psychischen Erkrankungen könnten manchmal Probleme auftreten, so die Erfahrung von Ruiss. Einerseits sei es gut, dass psychische Erkrankungen im Zuge eines Bewusstseinswandels aus der Nische herausgekommen seien:
"Auf der anderen Seite führt es dazu, dass dieser Bewusstseinswandel vielleicht zu einer Überdiagnose führt. Hier wird dann schnell aus einer Schüchternheit eine soziale Phobie, hier wird aus Traumata schnell auch eine Depression. Und hier muss man aufpassen, dass man den Bogen nicht überspannt."
Die gesetzlichen Krankenkassen müssten sich einem "Kampf an vielen Fronten" stellen, meinte Ruiss: von der Pharmaindustrie über die Ärzte bis hin zu den Patienten, die zu Recht eine gewisse Erwartungshaltung hin auf eine Diagnose hätten:
"Und in diesem Geflecht müssen wir als Krankenkassen schauen, was wir da tun können. Da gibt es Ansätze: Das ist Bewusstseinswandel, das sind gute Verträge mit den Ärzten, das ist aber auch der Ausschluss von Medikamenten, die keinen Sinn machen und auch das Nicht-Anerkennen von Krankheiten. Und von daher haben wir hier viele Baustellen."

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Die Zahl der diagnostizier- und therapierbaren Krankheiten steigt ständig, so scheint es zumindest, und das ist einerseits ein Ergebnis medizinischer Forschung und damit gut. Kritiker behaupten aber, es sei andererseits auch ein Erfindungsmarkt entstanden. Nicht wenige Krankheiten würden regelrecht von der Pharmaindustrie in die Welt gesetzt, um dann neue und manchmal auch altbekannte Medikamente besser verkaufen zu können. Und das ist dann weniger gut, für Patienten, aber auch für die Krankenkassen, die vor der Entscheidung stehen, welche Behandlungen und welche Mittel sie am Ende bezahlen wollen.
Es ist übrigens gar nicht so einfach gewesen, einen Kassenvertreter zu finden, der über dieses heikle Thema tatsächlich mit uns sprechen wollte, aber wir haben einen gefunden. Dirk Ruiss, der Leiter der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen des Verbands der Ersatzkassen. Schönen guten Morgen, Herr Ruis!
Dirk Ruiss: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Stehen Sie tatsächlich als Krankenkasse immer öfter vor dem Problem, nicht nur entscheiden zu müssen, ob ein neues Medikament wirklich wirkt, sondern auch entscheiden zu müssen, ob es die Krankheit, gegen die es helfen soll, überhaupt gibt?
Ruiss: Ja, wir stehen zunehmend vor diesem Problem, das haben sie richtig beschrieben. In welcher Größenordnung sich das aber bewegt, das ist für uns teilweise auch nicht ganz erkennbar. Es ist ein Phänomen wie bei der Schwarzarbeit: Wir wissen, dass es das gibt, aber wir wissen nicht, in welchem Umfang. Aber es gibt genügend Beispiele für erfundene Krankheiten, für Krankheiten, die es vielleicht auch gibt, aber die übermäßig diagnostiziert werden. Und das wird zunehmend ein Problem für die gesetzlichen Krankenkassen. Und es ist natürlich ein Problem für die Versicherten selber und für die Patienten. Und da müssen wir schauen, was wir da machen können.
Kassel: Herr Ruiss, wir haben gerade auch noch ein zusätzliches Problem, das ist nicht erfunden. Wir verstehen Sie gar nicht so arg gut. Es ist ja eine Mobilverbindung, vielleicht gehen Sie einfach einen Meter nach links oder rechts in Ihrer Wohnung, und dann gucken wir mal, ob wir Sie besser verstehen.
Ruiss: Wenn es so besser ist.

Zum Beispiel: Wechseljahre der Männer oder ADHS bei Kindern

Kassel: Es klingt jetzt wesentlich besser. Deshalb die Anschlussfrage. Sie haben gesagt, es gibt definitiv erfundene Krankheiten. Nennen Sie doch mal ein Beispiel. Was ist für Sie wirklich eine Krankheit, über die wir alle gern mal reden und die es echt nicht gibt?
Ruiss: Ein gutes Beispiel für eine erfundene Krankheit sind die Wechseljahre für Männer. Das ist vor einigen Jahren stark promotet worden, unter anderem von der Pharmaindustrie in Kombination mit PR-Agenturen. Das ist ein sehr treffendes Beispiel, wie ich finde.
Ein sehr gutes anderes Beispiel ist aber auch das Thema ADHS bei Kindern. Es ist natürlich eine Krankheit, aber hier stellen wir zunehmend Überdiagnosen fest, und das führt natürlich dann zu enormen Verschreibungsmengen, auch mit Ritalin, mit Medikamenten, die in der Regel für Kinder auch schädlich sind. Und beide Stränge muss man beachten, also Krankheiten, die es nicht gibt, aber auch Krankheiten, die es gibt, die aber zu stark diagnostiziert werden.

"Das ist ein Kampf an vielen Fronten"

Kassel: Haben Sie denn nicht manchmal wirklich alle gegen sich bei solchen Entscheidungen, die Pharmaindustrie sowieso, aber auch die Ärzte, die gern mit der Behandlung etwas verdienen wollen, und auch die Patienten, die glauben, sie brauchen diese Behandlung?
Ruiss: Ja, das ist natürlich ein Kampf an vielen Fronten. Das ist zum einen die Pharmaindustrie, die Medizinproduktehersteller, die wir hier in den Blick nehmen müssen. Es sind natürlich auch dann Ärzte, teilweise Ärzte, die hier auch schnell zum Rezeptblock greifen. Man muss auf der anderen Seite aber auch berücksichtigen, dass Patienten natürlich auch, wenn sie Leiden haben und auch Leidensdruck da ist, natürlich auch gern eine Diagnose bekommen. Das ist auch eine Erwartungshaltung, die sich hier vonseiten der Versicherten auch breit gemacht hat, und sozusagen in diesem Geflecht müssen wir schauen, was wir als Krankenkassen tun können.
Da gibt es Ansätze: Das ist ein Bewusstseinswandel, das sind gute Verträge mit den Ärzten. Das ist aber natürlich auch der Ausschluss von Medikamenten, die tatsächlich keinen Sinn machen, und auch das Nichtanerkennen von Krankheiten. Und von daher haben wir hier viele Baustellen.
Kassel: Bei körperlichen Erkrankungen ist es ja zumindest theoretisch mit eindeutigen Untersuchungen feststellbar, gibt es diese Krankheit, ist Person X betroffen und wirkt dieses Medikament. Bei psychischen Erkrankungen ist das ja komplizierter. Täusche ich mich, oder haben wir da in den letzten Jahren auch so einen Bewusstseinswandel erlebt, dass Sachen, die früher als "fühlt sich halt nicht so wohl" abgetan wurden, heute sofort als psychische Störung diagnostiziert werden?

Bewusstseinswandel bei psychischen Erkrankungen

Ruiss: Ja, das sehe ich genauso. Gerade die depressiven Erkrankungen sind hier ein gutes Beispiel, aber auch in zwei Richtungen. Zum einen ist dieser Bewusstseinswandel gut. Depressionen, psychische Erkrankungen sind so ein bisschen aus der Nische herausgekommen, sie sind salonfähig geworden, Leute, Patienten trauen sich auch, diese Krankheit offen zu kommunizieren.
Auf der anderen Seite führt das dazu, dass dieser Bewusstseinswandel vielleicht auch zu einer Überdiagnose führt. Hier wird dann schnell aus einer Schüchternheit eine soziale Phobie. Hier wird aus Traumata schnell auch eine Depression, aus klassischen Ängsten vielleicht auch eine Depression, und hier muss man aufpassen, dass man den Bogen nicht überspannt. Alles, was mit Überdiagnosen zu tun hat, führt schnell zu einem Medikament. Medikamente sind ein starker Eingriff bei Patienten, und hier müssen wir natürlich aufpassen, dass die Patienten nicht übermäßig behandelt werden.
Und wir müssen als gesetzliche Krankenkassen gucken, dass uns hier nicht die Kosten aus dem Ruder laufen. Das erfordert also viel Bewusstseinswandel auch bei den Ärzten, die den Patienten aufmerksam beobachten müssen, seine Leiden ernst nehmen müssen, aber natürlich auch klassische Therapieansätze, die nicht über das hinausgehen, was jetzt wirklich nötig ist.

"Krankheiten sind ein guter Verkaufsschlager"

Kassel: Aber, jetzt schütte ich mal Asche auf mein eigenes Haupt, Sie haben von einem Bewusstseinswandel gesprochen, müsste der nicht eigentlich auch unter anderem im Medizinjournalismus einsetzen und auch in der ganzen Gesellschaft? Weil ich beobachte das selbst bei mir, wenn es Schlagzeilen gibt über eine neue Krankheit, wird sofort beschlossen, da müssen wir was drüber machen, und gar nicht erst gefragt, ist denn das wirklich echt.
Ruiss: Das ist ein Eindruck, der Sie jetzt sehr ehrt. Ich habe den nicht ganz so. Ich glaube, das Thema Modekrankheiten ist auch tatsächlich ein Modethema. Es kommt immer mal wieder hoch, aber nicht in dem Maße in der Journaille, wie Sie das vielleicht jetzt beschreiben.
Aber Sie haben natürlich recht, Krankheiten sind ein guter Verkaufsschlager, vermutlich auch in der Presse. Das Beispiel Wechseljahre für Männer oder auch alles, was mit dem Thema Sex zu tun hat oder Lebensmittelerkrankungen, das lässt sich natürlich gut verkaufen auf Ratgeberseiten.
Ich verweise hier gern als Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen auf unabhängige Informationsseiten, die wir als Krankenkassen haben. Das ist eine Seite www.gesundheitsinformation.de, wo man sehr neutral und auch sehr aufgeklärt über Krankheitsbilder sich als Patient informieren kann.
Es gibt auch gute Seiten über Behandlungsmethoden der gesetzlichen Krankenkassen, über überflüssige Behandlungsmethoden. Und hier rate ich halt den Patienten, sich auf unabhängigen Seiten zu informieren, mit dem Arzt natürlich auch zu sprechen. Und ich glaube, dann kann man das Problem auch weitgehend für sich selber in den Griff bekommen.
Kassel: Könnte man sozusagen fast kalauermäßig sagen, nicht igeln, googeln. Dirk Ruis war das, der Leiter der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen des Verbands der Ersatzkassen, über erfundene Krankheiten und den Umgang damit. Herr Ruis, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Ruiss: Danke sehr, schöne Grüße nach Berlin!
Kassel: Schöne Grüße zurück nach Nordrhein-Westfalen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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