Pakistans schleichende Islamisierung

Von Sabina Matthay · 20.06.2013
Die pakistanische Gesellschaft wird immer konservativer und restriktiver. Auch Frauen der Ober- und Mittelschicht, die früher eher liberalen Strömungen anhingen, wenden sich orthodoxeren Formen des Islams zu - und vermitteln diese dann innerhalb der Familien.
Koranstunde in der Jamia Hafsa Madrasa in Islamabad. Etwa 30 Mädchen zwischen zehn und zwölf, von Kopf bis Fuß in dunkelrote Burkas gehüllt, wiegen sich im Rhythmus der Suren, die sie auswendig lernen. Eine Szene wie in tausenden pakistanischen Madrasen. Die Jamia Hafsa, die größte pakistanische Koranschule für Mädchen, gehört zur Roten Moschee, der Hochburg des islamischen Extremismus in der pakistanischen Hauptstadt.

Die Lal Masjid wurde 1965 gegründet. Schon der erste Imam Muhammad Abdullah predigte radikal und pflegte enge Beziehungen zu Pakistans fundamentalistischem Militärdiktator Mohammad Zia ul Haq, der dem Land die Islamisierung von Oben verordnete.

Während der sowjetischen Besatzung Afghanistans vermittelte die Rote Moschee Rekrutierung und Ausbildung von Mujahideen, die im Nachbarland kämpfen sollten. Einflussreiche Politiker, Militärs und Geheimdienstler hielten ihre Hand auch schützend über die Moschee, als Maulana Abdullah ermordet wurde, seine beiden Söhne die Leitung der Lal Masjid übernahmen und nach dem 11. September 2001 offen gegen den Eintritt der Regierung Musharraf in die internationale Anti-Terrorfront predigten. Noch fanatischer als der ältere Bruder soll nur dessen Ehefrau Umme Hassan sein, die das angeschlossene Mädchenseminar Jamia Hafsa leitet.

Provokationen der Schülerinnen setzten 2007 eine monatelange Eskalation der Gewalt zwischen Anhängern der Roten Moschee und der Staatsmacht in Gang, die mit der blutigen Erstürmung des Moscheegeländes durch die Sicherheitskräfte und dem Tod von über hundert Menschen endete.

Viele Schülerinnen weigerten sich bis zuletzt, die Jamia Hafsa zu verlassen. Lieber wollten sie als Märtyrerinnen sterben, auch die heute 25-jährige Hameeda:

"Die Jamia Hafsa ist mein Zuhause und wenn das Zuhause angegriffen wird, dann muss man bleiben und es verteidigen."

Die Schäden der Kämpfe sind bis heute nur notdürftig ausgebessert. Neu sind lediglich die grellen Poster mit blutrünstigen Szenen der Belagerung.

"Ich kann den Angriff einfach nicht vergessen!"

Hameeda wurde als Elfjährige auf die Madrasa in Islamabad geschickt, weil es in ihrem Dorf in Nordwestpakistan keine weiterführende Schule für Mädchen gab. So wie sie kommen die meisten Schülerinnen vom Lande, die Familien geben ihre Töchter in die Jamia Hafsa, weil Unterricht und Unterbringung dort kostenlos sind und die Tugendhaftigkeit der Mädchen – wichtig für die Ehre der Familie - hinter den Mauern des Seminars gewährleistet ist.

Englisch und Mathematik stehen auf dem Lehrplan, auch Computerklassen gibt es. Vor allem aber lernen die Mädchen den Koran auswendig, studieren die Hadithe, die Überlieferungen über den Propheten Mohammed, und Sharia, islamisches Recht. Bei all dem wurden die Schülerinnen auch radikalislamisch indoktriniert von Umme Hassan, der Ehefrau des Leiters der Roten Moschee, der sich offen zu den Taliban bekannte. Selbstmordattentate, sagt Hameeda, als das Mikrofon schon ausgeschaltet war, seien im Kampf gegen Ungläubige gerechtfertigt.

Rückzugsräume, in denen Frauen indoktriniert werden
Ein moderner Bau in der Großstadt Lahore. Mit verspiegelten Fenstern, Marmorverzierungen und Wachleuten vorm Portal wirkt er von außen wie der Sitz eines Großunternehmens. Ein hochglanzpolierter Geländewagen nach dem anderen liefert tiefverschleierte Frauen mit Kindern und Kindermädchen im Gefolge ab. Sie huschen in das Zentrum der islamistischen Frauenorganisation Al Huda.

1994 von der Islamwissenschaftlerin Farhat Hashmi gegründet, hat Al Huda inzwischen enormen Zulauf, allein in Pakistan zählt sie inzwischen angeblich über 10.000 Anhängerinnen – vor allem Frauen aus wohlhabenden Schichten, viele mit Abitur und Hochschulabschluss.

Der Politologe Zafarullah Khan erklärt den Erfolg von Farhat Hashmi:

"Als sie auf der Bildfläche erschien, befand Pakistan sich schon mitten in der Islamisierung durch den Staat, die unter General Zia al Haq begonnen wurde. Das Klima stimmte also und Farhat Hashmi war kreativ und aktiv genug, es zu nutzen."

Farhat Hashmi ist eine von vielen Hardlinern, die das einst relativ liberale Pakistan allmählich in einen konservativen religiösen Staat verwandelt haben. Sie nutzte das Bedürfnis von Frauen nach Treffpunkten außerhalb der Familie, die Männern verschlossen bleiben. In einem Land, in dem religiöse Eiferer die Bewegungsfreiheit von Frauen einschränken, bietet Al Huda ihnen Rückzugsräume, in denen sie dann indoktriniert werden.

Westliche Journalistinnen dürfen nicht in die Al Huda-Zentren. Bitten um Besuch und Interview werden mit "Salam Aleikum, liebe Schwester" und der Bitte um einen Fragenkatalog beantwortet – danach versandet die Kommunikation mit Al Huda.

Die Soziologin Shazia Shaheen schildert ihre Eindrücke von Besuchen dort. An der Rezeption wurde sie von einer freundlichen Frau in Uniform-ähnlichem körperverhüllendem Hidschab lud Shazia zur Teilnahme an einem Vortrag eingeladen, damit sie ein besserer Mensch und eine bessere Muslimin werde. Der Vortragssaal war sauber, klimagekühlt, prächtig dekoriert - und voll besetzt.

Al Hudas Gründerin Farhat Hashmi wurde per Videoverbindung zugeschaltet, die Teilnehmerinnen, darunter viele Akademikerinnen, konnten Fragen stellen, ganz anders als in den traditionellen Koranschulen, wo weniger betuchte und gebildete Gläubige reihenweise harte Bänke drücken und Suren auswendig lernen.

Doch genau wie die Madrassa Jamia Hafsa in Islamabad orientiert sich auch die Frauenorganisation Al Hudas in ihrer Interpretation des Korans am puristischen Wahhabismus, der den Anspruch erhebt, die einzig reine Form des Islam zu lehren und alle anderen Strömungen strikt ablehnt.

Volkstümliche islamische Traditionen wie den mystischen Sufismus, der in Pakistan tief verwurzelt ist, denunzieren die Fundamentalisten als heidnisch. Die Heiligenverehrung, der Glaube an Geister und die Überzeugung, dass Tanz und Musik Gottes Gehör verschaffen, widersprechen ihrer Ideologie.

Islamisierung erreicht die pakistanische Oberschicht
Arjumand gehört seit Jahren zu Al Huda. Die 33-jährige Mutter dreier Kinder ist mit einem wohlhabenden Rechtsanwalt verheiratet und lebt im vornehmsten Viertel von Lahore. Die Nachbarn sind Unternehmer, Akademiker, Politiker. Das große Haus ist mit wertvollen Möbeln, erlesenen Teppichen und modernsten Elektrogeräten ausgestattet.

Dass Arjumand allerdings bei jeder Gelegenheit ihre Gottgefälligkeit betont, unterscheidet sie von vielen ihrer Nachbarinnen. Pakistan ist zwar eine islamische Republik, demonstrative Frömmigkeit ist in der Oberschicht aber nicht die Norm.

Während andere wohlhabende Pakistanerinnen sich bei Empfängen für Society-Magazine ablichten lassen und den obligatorischen Schal dabei höchstens über der Schulter drapieren statt den Kopf zu verhüllen, zeigt Arjumand sich selbst zu Hause tief verschleiert, wenn fremde Männer anwesend sind. Musik – ob westlichen Pop oder klassischen Qawwali-Gesang – lehnt sie ebenso als "unislamisch" ab wie Spielfilme und Geburtstagsfeiern. Viele Pakistaner halten das für rückwärtsgewandt, doch Arjumand empfindet sich als Teil einer Avantgarde.

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens fand die Tochter aus reichem Hause den fundamentalistischen Islam wahhabitischer Prägung bei Al Huda. Das oberste Ziel der Organisation bestehe darin, Frauen Tugendhaftigkeit beizubringen, sagt Arjumand:

"Sie lehrten uns, Hausfrau und Mutter zu sein. Darin findet man seine Befriedigung, das ist die Pflicht, die Allah uns zugedacht hat. Der Islam lehrt, dass ich meinem Mann gehorchen muss."

Die Soziologin Shazia Shaheen hält Al Huda dagegen für ein Instrument der Unterdrückung:

"Diese Einrichtungen wirken beschwichtigend, das sind keine Katalysatoren. Da wird den Frauen nicht gepredigt, für ihre Rechte aufzustehen, sondern sich dem Ehemann und dessen Familie zu fügen."

Denn Geschlechterdiskriminierung, Gewalt und Ungleichheit vor dem Gesetz sind immer noch weibliche Realität in Pakistan.

Doch in einer Gesellschaft, die sich offiziell dem Islam verschrieben hat, bringt strenge Religiosität den Al Huda-Anhängerinnen Einfluss und Status. Schwiegertöchter, die in pakistanischen Familien zunächst wenig zu sagen haben, gewinnen durch Frömmigkeit moralische Oberhoheit. Das ist auch Arjumands Erfahrung:

"Meine Schwägerin war ziemlich dominant. Mit den Jahren – Gott sei gelobt – hat Allah es mir leicht gemacht, sie alle für mich zu gewinnen und sie von meiner Sicht zu überzeugen."

Schwägerin und Schwiegermutter seien heute ebenfalls streng gläubig und Arjumands Mann, der ihre religiöse Erweckung anfangs befremdlich fand, toleriert ihren frommen Lebenswandel jetzt.

"Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass diese Frauen die Macht im Hause übernommen haben. Wenn ich eine gute Muslimin bin, kannst Du es nicht wagen, mein Verhalten infrage zu stellen. Sie beherrschen das Haus und die Familie."

Die schleichende Islamisierung lässt den rechtlichen und sozialen Spielraum von Frauen tatsächlich allerdings schrumpfen. Ob Al Huda Gewalt im Namen des Islam gutheißt und Al Kaeda-Gründer Osama bin Laden verehrt, wie manche Kritiker behaupten, ist unklar. Fragen nach ihrer Haltung zu Pakistans Blasphemiegesetzen, die Gotteslästerung unter Todesstrafe stellen, weicht Arjumand aus. Auch zu sogenannten Ehrenmorden schweigt sie.

Die Hudud-Dekrete des fundamentalistischen Militärdiktators Zia-ul-Haq, die die Geschlechtertrennung zementieren und drakonische Strafen vorsehen für Frauen, denen Untreue oder Unsittlichkeit vorgeworfen wird, heißt sie gut, weil sie Ehre und Würde der Frau schützten. Pakistans demokratische Verfassung lehnt sie dagegen ab. Von einer echten islamischen Republik könne nicht die Rede sein:

"Pakistans Verfassung, sein politisches System, folgt nicht dem Islam. Denn hier entscheidet das Parlament. Aber als Muslime hat Allah ja schon für uns entschieden."

Zunehmende Verknüpfung von Religion und nationaler Identität
Der Islam der Fundamentalisten verlangt eben absolute Unterwerfung gegenüber Gott. Indem Al Huda diese Islam-Interpretation propagiert, trägt sie zur Radikalisierung des gesellschaftlichen und kulturellen Umfelds in Pakistan bei. Damit wird vollendet, was unter Zia al Haq mit dem zunehmenden Einfluss der Religion auf die pakistanische Gesetzgebung und einem Lehrplan, der den Hass gegen religiöse Minderheiten schürt, begann.

Die Politologin Ayesha Siddiqua sieht eine immer engere Verknüpfung von Religion und nationaler Identität in Pakistan voraus:

"Ideologisch bewegen wir uns auf eine Mischform der Theokratie zu. Diese Gesellschaft hat sich innerhalb kurzer Zeit stark verändert. Mehrheit und Minderheiten, ob ethnisch oder religiös, haben sich weit von einander entfernt. Und es ist keiner in Sicht, der uns wieder zusammenbringen kann. Wir werden uns durchwursteln. Aber es wird unerträglich sein."

Koranschulen wie Jamia Hafsa und Organisationen à la Al Huda sind Teil der fundamentalistischen Parallelgesellschaft, die den konsequenten Umbau von Staat und Gesellschaft Pakistans vorantreibt.

Auf lange Sicht schließen Pluralismus und religiöse Intoleranz einander aus.


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