Originalton

Von der Einsamkeit der roten Zähne

Die Autorin Marjana Gaponenko, Chamisso Preisträgerin 2013
Die Autorin Marjana Gaponenko, Chamisso Preisträgerin 2013 © dpa / picture alliance / Yves Noir
Von Marjana Gaponenko · 05.08.2014
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche von Marjana Gaponenko.
"Worum geht es überhaupt in Ihrem Theaterstück?", fragt mich Madame Gros, nachdem sie ihren Espresso in einem Schluck geleert hat. Ihr Blick ruht auf dem Kellner, der die umher stehenden Tische unaufdringlich aber energisch abräumt. Während ich antworte, wird die Luft kaskadenartig von sanftem Donnergrollen erschüttert.
"Von den Menschen auf dem Mond? Das ist aber langweilig, schreiben Sie doch über Ihr armes Land, Sie kommen ja aus der Ukraine. Wie sagt man es richtig, Ukraìne oder Ukráine?"
"So wie sie es gewohnt sind, Madame."
"Und wenn ich nichts gewohnt bin?"
"Dann ist Ukraíne richtiger."
"Ach, die Höflichkeit, die kann manchmal so dreist sein! Egal. Sie wollten doch etwas von mir, wo sind wir gestern stehen geblieben?"
"Die Essenz Ihres Lebens", komme ich stammelnd zu Hilfe.
Die Operndiva verzieht ihr Gesicht zu einem sauren Lächeln und winkt dem Kellner zu. Ich wünschte, ich hätte nicht gesehen, dass etwas Lippenstift an einem ihrer Vorderzähne klebt. Peinlich berührt schaue ich zur Seite, doch es nützt nichts – das intime und hilflose Bild kann ich nicht vergessen. Der rote Zahn ist genauso einsam wie die zittrige Handschrift eines alten Menschen, fällt mir ein. Merk es dir für dein Theaterstück, befehle ich mir.
"Sie meinen sicher die Bilanz meines Lebens, nicht die Essenz", verbessert mich die Diva. "Ja, genau, Ihre Lebensbilanz in drei, vier Sätzen. Ich wäre Ihnen unendlich dankbar", füge ich unnötigerweise hinzu. Madame Gros schaut mich entgeistert an. "Unendlich? Jetzt übertreiben Sie aber. Also, die Bilanz. Drei Sätze?" Ich nicke. "Lüge nicht, betrüge nicht, täusche nicht!"
"Ist das wahr?", frage ich vorsichtig. "Natürlich nicht!" Madame Gros lacht mit dem Donner um die Wette. "Ein nachdenklicher Mensch", beginnt sie von neuem, "kommt bis zur Mitte seines Lebens nicht umhin, die Gesellschaft der Zeitgenossen zu fliehen, jeder großen Geste zu misstrauen. Er sieht ein, dass sein taktvolles Vorgehen in Geschäften Gefälligkeit war, sein geschickter Umgang mit den Launen der Großen – Heuchelei, seine Selbstbeherrschung – Kälte. Da ist die Verachtung ein fast an Edelmut grenzendes Verhalten, nicht wahr. Na ja, jedenfalls wird man die eitle Welt nicht ändern, genauso wenig wie sich selbst. Man muss mit sich leben, und mit Humor fällt es einem am leichtesten. Oh, Lachen, der Seele scheuer Gruß ...", rezitiert Madame Gros.
Wer der Dichter sei, will ich wissen. "Meine Wenigkeit", antwortet sie und blinzelt mich spitzbübisch an.

Die Originaltöne kommen in dieser Woche von der jungen, in Odessa geborenen, auf Deutsch schreibenden Autorin Marjana Gaponenko. Sie lebt in Mainz und Wien und unterhält sich in einem Caféhaus mit einer älteren Dame.